Lidewey Van Noord: Pellegrina – eine italienische Radsportwallfahrt

Lidewey Van Noord: Pellegrina – eine italienische Radsportwallfahrt

In Deutschland ist Rennradfahren ja ein Nischensport wie Feldhockey. Selbst Sportfans kennen meist nur „Ulle“ Jan Ulrich und die Tour de France. In Italien ist der Giro, der Radsport, ein nationales Kulturgut wie die Pizza. Genauso in Belgien und Frankreich und den Niederlanden, von wo die tolle Autorin Lidewey van Noord kommt.

Das Buch ist was für Hardcore Fans: von Radsport und Giro D’Italia. Atmosphärische, knappe und bewegende Geschichten, begleitet von menschenleeren Fotos. Alle Kapitel drehen sich um heilige Rennradfahrer, Schutzheilige der Rennradfahrer, anbetungswürdige Berge und Leistungen – und auch die Scheinheiligkeit des Doping.

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Juli Zeh: Über Menschen

Dora hat mitten in Corona ein Haus auf’m Dorf in Brandenburg gekauft. Weil ihre Beziehung am Ende ist. Und sie als Senior Copywriter / Texterin offenbar spürt, ihre Seele zu verkaufen – auch wenn sie für eine Agentur arbeitet, die total woke und korrekt Firmen mit Nachhaltigkeits- und Weltrettungskonzept berät. Und sich wenn es darauf ankommt, trotzdem verhält wie alle.

Also Flucht in eine Brandenburger Halb-Ruine mit viel zu großem Garten. Die Bewohnerin ohne blassen Schimmer von Gartenpflege oder Anbau und Handwerk. Nebenan wohnt der selbsternannte Dorfnazi. Er wirkt wie der „einzige Schwule des Dorfs“ aus der Little Britain TV Satire: Ihm gefällt die Rolle des Außenseiters. Statt Hure mit goldenem Herz, ist Gote der Nazi mit dem Herz am rechten Fleck. Das ist ein Klischee. Aber mit Ungereimtheiten. Zeh bricht im Roman so einige Brandenburg Klischees auf und füllt sie mit menschlichen Widersprüchen und Liebenswürdigkeiten und zeigt beschädigte Typen, die irgendwie „echt“ sind.

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Stephen King: Salems Lot & Friedhof der Kuscheltiere

Stephen King: Salems Lot & Friedhof der Kuscheltiere

Auch nach sicher 35 Jahren erinnere ich mich genau, wie ich damals nach der Lektüre von Kings Salems Lot (Brennen muss Salem) in meinem Bett im Souterrain lag, in der Frotteebettwäsche mit den seltsamen Mustern, die Fantaflasche neben meinem IKEA Bett und das Buch zur Seite legte. Einzuschlafen gelang mir erst, als ich das Knacken gefolgt von Stille, das Wummern einer Windbö dann wieder Stille nicht mehr deutete, mir ein Lied vorsummte und an eine Fernsehserie wie Ein Colt für alle Fälle dachte. Vielleicht war das letzte Mal, das ich vor Angst das Licht anließ zum Einschlafen.

Beim Wiederlesen dreieinhalb Jahrzehnte später, auf Englisch, weil die deutsche Übersetzung von Salems Lot, die ich noch im Schrank hatte, unerträglich war, ist es das gleiche packende, breit und charakterlich tief und so gar nicht Horror-Effekt haschende, sondern schlichtweg unheimliche, thrilling Buch.
Mit dem fast gleichen Effekt wie damals: dass ich nämlich beim Gang in unseren dunklen Flur ein, zwei Sekunden lang ein diffuses Achtung! spüre.

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Lisa Halliday: Asymmetrie

Lisa Halliday: Asymmetrie

Roman Hanser, 315 Seiten, 2018

Empfehlung – man glaubt es kaum, aus dem Internet. Von einem Vielleser. Und ja, sehr eigenwilliges Buch. Als ich es dann bekam, hatte ich vergessen, worum es ging und begann zu lesen. Weltbekannter Schriftsteller, Ezra Blazer, und junge Verlagsangestellte Alice begegnen sich, er will sie, sie willigt ein, es wird eine geheime Affäre. Es geht in den Gesprächen und Gemeinsamkeiten um Ticks und Krankheiten, um spezielle Marmeladen oder Smoothies, natürlich um Bücher (aber eher selten), um bestimmte Hemden und Socken, Sex und Alkohol, Krankheiten, nötige Operationen und Baseball.

Das Leben der beiden findet in Blazers Apartment mit Blick auf den Central Park und die ganze Stadt oder einem großzügigen Haus auf dem Land statt, wohin er sich zum Schreiben im Sommer zurückzieht. Wenn er weg ist, scheint Alice verloren. Wenn er da ist, irgendwann unsicher, wohin das führt, und was sie davon hat. Er mag sie, sie mag ihn, zwei kluge Menschen sehr unterschiedlicher Generationen, Erfahrungen und an den beiden Enden der (beruflichen) Parabel.
Das ist witzig, klug, hellsichtig geschrieben, der Blick auf den Überfluss, der sich im Kleinklein bestimmter Qualitäten von Produkten zeigt, die Lust auf Texte und den großen Unterschied zwischen Leben und Text – vor allem den eigenen und das eigene. Beide sind sich des Klischees bewusst, dass sie da leben. Beide wissen, es hat keine Zukunft, aber na und? Was hat schon Zukunft, außer das Leben selbst?

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Dan Kieran: Slow Travel

Dan Kieran: Slow Travel

Heyne Verlag 2014, 222 Seiten

Vorwort kommt von einem Mann, Tom Hodgkinson dessen „Leitfaden für faule Eltern“ mir eine kleine Lockerungsübung in der Eltern-Performance-orientierten Welt von heute bot: Lasst die Kleinen mal allein und allein machen, selbst machen. Bleib locker und trink ruhig noch ein Bier auf dem Geburtstag deines Kindes, statt auch nur wieder alles im Griff haben zu wollen und aus der Orga!-Schleife gar nicht mehr rauszukommen, die modernes Familienleben heute bedeutet.
Dieses Reisebuch von einem Freund und Kollegen von Hodgkinson zielt in eine ähnliche Richtung – und passt deswegen so gut in eine Zeit, die von digitalem Fasten faselt und Achtsamkeit sucht und in der Leute unfähig geworden zu sein scheinen, irgendwas dem Zufall zu überlassen oder auch nur eine Sekunde Stille vulgo Langeweile zu ertragen. Kieran schildert sein eigenes Erweckungserlebnis, als er einfach von seinem Haus losging und dabei Abenteuer erlebte, weil er nicht wusste, wo er hinkommen würde, wie es dort aussähe und wie die Dinge zwischen seinem Haus und diesem unbekannten Ziel laufen würden.

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Haruki Murakami: Kafka am Strand

Haruki Murakami: Kafka am Strand

Nach einigen begeisterten Lektüren vor sicher zehn oder 15 Jahren (die Kurzgeschichten, Hard Boiled Wonderland, Naokos Lächeln) und einigen gescheiterten Leseveruschen (Mr. Aufziehvogel, Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki), weil die Geschichten mich nicht über Seite 100 ziehen konnten, war diese surreale Alltagsgeschichte, dieser dicke Romans mit zwei Hauptfiguren, sprechenden Katzen und sowohl einer zweiten Dimension wie Bedeutung, ganz leicht zu lesen.

Zwei Welten und Erzählungen näher sich immer weiter an und berühren sich schließlich ganz leicht: Ein Strang ist der 15-jährige Kafka, der andere der leicht minderbemittelte Nakata (der von einer Reise auf die andere Seite so lädiert zurückkehrte). Alles spielt sich in einer seltsamen Bibliothek und eine noch seltsameren Berghütte, rund um einen geheimnisvollen Stein und regnende Fische und diverse Hotels und Unterschlüpfe ab.

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3×2. Weltkrieg – drei Romane ein Thema

3×2. Weltkrieg – drei Romane ein Thema

Krieg – Drei Bücher erzählen vom Davor, kurz vorm Ende und danach

Endlich! Der letzt Teil von Jason Lutes BERLIN TRILOGIE erschienen. Und Endlich #2 – nach 10 Jahren wieder ein Buch von Michael Ondaatje („Katzentisch“ von 2011 interessierte mich nicht so), sein WARLIGHT wird gerade auch von den deutschen Rezensenten gepriesen. Und schließlich, von dem hab ich nie genug, Ralf Rothmann DER GOTT JENES SOMMERS.

Alle drei Bücher spielen rund um den Zweiten Weltkrieg, mit unterschiedlichsten Perspektiven und Erzählformen. Mal als multiperspektivisches Kaleidoskop aus Geschichten (Lutes), als Sommerzählung aus der Sicht eines jungen Mädchen vom Land am Rand des Krieges (Rothmann) oder als Agentenroman und gleichzeitig Coming of Age Geschichte (Ondaatje).
Der Krieg aber ist in allen Geschichten schimmernder Hintergrund für Geschehnisse, Charaktere und eine Stimmung, voller Möglichkeiten, sozialer Umbrüche, irrwitzigen Karrieren, aber auch Ängsten, Hassbotschaften und politischer Unübersichtlichkeit und Einzelschicksalen, die sowohl historisch treffend wie zeitlos scheinen.

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Das gilt immer: KÄMPFEN von Karl Ove Knausgard

Das gilt immer: KÄMPFEN von Karl Ove Knausgard

 

Dieses Knausgard Buch ist beglückend und erhellend. Knausgard hat eine über viertausend Seiten umfassende, sechsbändige Serie  in nur drei Jahren geschrieben (der letzte Band schon 2011 in Norwegen erschienen). All das, um sein Leben zu erzählen. Aber es ist keine Autobiografie. Die Bücher sind nicht chronologisch. Und Knausgard war bis zum Erscheinen der ersten drei Bücher nur Experten skandinavischer Literatur ein Begriff, eine Biografie zu schreiben wäre also einigermassen vermessen erschienen. Und weil Knausgard, wie wir lernen in seinen Büchern, durch mangelndes Selbstbewusstsein und ewige Selbstzweifel gequält wurde, wäre er wohl als letzter auf die Idee gekommen, sein Leben zu erzählen. Er meinte nämlich: Was hab ich schon zu erzählen.

Und dann stirbt sein Vater. Und Knausgard wählt die radikale Erinnerung mit (weitgehend) Klarnamen und beschreibt hochdetailiert einfach nur Alltag aus Aufstehen, Arbeiten, Studium, Saufen, Kinderkriegen und -haben, Kaffeetrinken, Putzen, Kochen, Rauchen, Reden. Unterbrochen von Reflexionen über das Große und das Ganze, sein Leben, die Kunst, die Welt, die Menschen, Gefühle, Schreiben, Wollen und Können, Scheitern und Glück. All das erregte eine Menge Menschen. All das traf einen Nerv. All das hat mit uns zu tun, auch wenn es scheinbar nur um einen speziellen Mann geht, seine Jugend, seine Karriere, seine Familie. Unsere Gegenwart.

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Marion Poschmann: Die Kieferninseln

Marion Poschmann: Die Kieferninseln

Suhrkamp, 165 Seiten

Und wieder Japan. Diesmal in Form einer allegorischen Reise mit imaginiertem Gefährten. Der Unidozent Gilbert (Forschungsschwerpunkt Bärte) stürzt aus eine Ehekrise direkt in eine berufliche Sinnkrise und von da nach Japan. Zunächst ist er dort der typisch staunende (aber nur mit dem Kopf, der Mann fühlt nicht viel) Westler, begibt er sich von Lektüre japanischer Dichter inspiriert bald auf eine legendäre Pilgerreise: Er will auf den Spuren des berühmten Dichters Basho zu den von ihm in Haikus verewigten Orten fahren. Sie bestehen, auch wieder typisch Japanisch, vor allem aus Bäumen und Steinen.

An einem Bahnhof verhindert er sehr unspektakulär den Suizid eines jungen Mannes. Der unterwirft sich fortan dem Willen des gescheiterten Unidozenten und reist mit ihm. Als eine Art japanisches Alter Ego in jung. Sexuell und beruflich gescheitert, eine Schande für die Eltern und die Welt, mit einem angeklebten Bart, will er an einem für Suizidfreaks heiligen Ort aus dem Leben scheiden: An berühmten Klippen oder in einem berühmten Selbstmord-Wald (ein YouTube Star erntete gerade einen Shitstorm, weil er in dem Wald eine Leiche entdeckte und sie filmte). Gilbert will dem jungen Mann jedoch zu einem ehrenvollen Ende verhelfen und ihn zugleich davon abbringen, bzw. wenn er ihn schon nicht davon abbringen kann, dann soll es wenigstens in angemessener Form geschehen.

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Frenk Meeuwsen: ZEN OHNE MEISTER

Frenk Meeuwsen: ZEN OHNE MEISTER

Zen und die Kunst, einen Comic zu zeichnen

avant Verlag, 286 Seiten

Der niederländische Maler zeichnete mit ZEN OHNE MEISTER seinen ersten Comic. Über seine persönlichen Lebensthemen: Zen. Japan. Kampfkunst.

Und er erzählt nebenbei in vielen kurzen, nur thematische verknüpften Kapiteln, warum wir Westler von der Zen Mischung aus Philosophie und Glauben, aus Handlungsanweisung und Gefühl oder Sehnsucht so fasziniert sind – und dem Zen-Weg doch immer nur nah kommen können. Weil Zen in Asien über viele Jahrhunderte tief ins kulturelle Leben eingedrungen ist, dort Architektur, Essen, Kleidung, Glauben und Handeln und Denken beeinflusst hat. Wir können ihn also (wie ander kulturelle Importe) nur auf unsere Weise erfassen, adaptieren und für uns passend machen.

Von so einer Adaption, einer intensiven Forschungsreise und dem Versuch, Zen ins eigene Leben zu integrieren erzählt Frenk Meeuwsens Comic. In Schwarz-Weiß Bildern, die träumerisch das Hier und Jetzt mit Gedanken an Gestern, Zen oder seine Kunst vermischen.

Er erzählt vom Export des Zen in den 50er Jahren in den Westen, teilt seine Gedanken über Besitz und Verlust, beschreibt seine Reisen in Japan, erzählt von seiner Kindheit und Jugend in den Niederlanden und seiner anderauernden Suche nach dem Zen-Weg. Er beschreibt, was Kunst, Tod, Malerei oder Kampf mit Zen zu tun haben – oder zu tun haben können, wenn man den Weg wählt.

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