Paul Auster ist tot

jeder, der schreibt, hat jemanden, der es ihm durch seine Bücher beibringt. Für mich war das in den 90ern Paul Auster. Nun ist er ganz konsequent als unbeirrbarer Zigarilloraucher an Lungenkrebs gestorben.

Als ich ihn 1995 unmittelbar vor einem wochenlangen cross-country Trip in New Yorks Washington Square Park traf und mich nach einer Lesung kurz mit ihm unterhielt, da war dies wie ein gutes Omen für meine Reise. Und mehr als das: es war ein stiller Pakt. Ich werde schreiben! Ich werde auch was zu erzählen haben.

Mit meinem bald heißgeliebten Bulli Bluestar unterwegs durch die USA, las ich dann das frisch von Auster signierte MOON PALACE – und erlebte auf gespenstische Art, wie der Kern der Auster-Literatur mein Leben ergriff: Die Reise von Marco Stanley Fogg von New York in den Westen, die in MOONPALACE beschrieben wird, die Suche nach dem Vater, nach der eigenen Bestimmung, diese Motive legte sich wie eine Doppelbelichtung über meine eigene Reise, meine eigenen Gedanken, Gefühle und Träume damals. 

In einer bizarren Parallelität las und erlebte ich Dinge, die im Buch beschrieben wurden. Es gab auch diese Zufälle, Begegnungen, die für immer mein Leben veränderten – und sie hatten mit Bewegung, mit Schreiben und vor allem mit Menschen zu tun. Wie waren unkonventionell, eigen, ein bisschen fremd und allein und dabei klug auf eine ganz und gar unakademische Art.

Alles, was ich erlebte in den Wochen beim immer erträumten On the Road Trip, entstand aus meiner Bewegung und der Bewegung der Welt um mich. Diese Erinnerung kann ich heute noch wachrufen: Wie Bewegung eine Bewegung auf allen Ebenen erzeugt: in Gedanken, Taten und Gefühlen. Ich spürte die Gewissheit, etwas zu suchen und entwickelte den Anspruch, genau hinzusehen. Ermutigt auch durch das Buch war ich bereit, mich der Bewegung anzuvertrauen und war dann in Lage, all den Begegnungen und Zufällen Bedeutung zu geben, sie zu sammeln in mir und darüber zu schreiben – manchmal Jahre später. MOON PALACE und meine Reise nach Seattle sind ineinander verdreht wie die Stränge eines Seils. Dieses Seil gab mir Sicherheit bei all den Aufstiegen und fing mich bei den Abstürzen auf.

Paul Austers Bücher ermöglichten meinem Staunen, Sehnen und der gelegentlich empfundenen, existenzielle Einsamkeit eine Richtung zu geben. Sie erzählten davon, wie große Liebe, wie die Suche nach den entscheidenden Dingen im Leben gelingen kann: Weitermachen, Aufpassen und Zupacken, wenn der Moment kommt. Der Trip und das Buch und die Monate in meinem einstigen Traumland Amerika erzeugten eine eruptive Schreiblust, die ich erst Jahre später als die Basis aller meiner beruflichen Entwicklungen und sehr vieler privater Interessen und Wünsche erkannte.

Bis vor ein paar Wochen hatte ich aber viele Jahre kein Auster Buch mehr gelesen. Ich bin zurück in Deutschland gewissermaßen literarisch weitergezogen oder habe mich emanzipiert von meinem literarischen Vater. Aus dem einen wurden viele, darunter Ralf Rothmann, Richard Ford, W.G. Sebald, Don DeLillo, Michael Ondaatje, James Salter, Denis Johnson, Jack Kerouac und Karl Ove Knausgard (ja, alles Männer, viele US Amerikaner, I know…). Und es gab – ganz wie bei Eltern und Kindern – auch Enttäuschungen.

Als Paul Auster nach seinem tollen Drehbuch für die Filme Smoke und Blue in the Face einen eigenen Film gemacht hat – Lulu on the Bridge – und wir zur Premiere in Anwesenheit des Regisseurs in Berlin gingen, war es geradezu schmerzhaft, wie mißlungen dieser Film war. Aber: er hat es einfach gemacht. Und dann doch weiter Bücher geschrieben. Und trotz meiner mißlungenen Versuche, seine neuen Bücher zu mögen und einem daraus folgendem jahrelangen Desinteresse habe ich nie vergessen, wo ich schreibend herkomme. Und von wem. Paul Auster.

Bis ich vor einigen Wochen sein nun für immer letztes Buch, BAUMGARTNER, in der Stadtbibliothek die Hand nahm und es sich anfühlte nach: Solltest du lesen! Ich wusste nichts über das Buch oder überhaupt, dass es erschienen war. Und las es dann in einer Sitzung durch. Da war alles wieder da: der Sound, der mich damals gepackt hatte, die Zufälle, die das Leben machen, die einsamen Entscheidungen und Momente der Nähe. Eine kurze, eigenwillige und essentielle Geschichte von Abschied und Tod und dem Schreiben. Ich habe es sehr geliebt. Und dann auch wieder erinnert, was ihn und mich glaube ich verband: Beim Schreiben haben wir immer herausfinden können, was wir wirklichen denken und fühlen. Und worauf es es am Ende ankommt. Es getan zu haben.

Ciao lieber Paul Auster (und danke, dass du damals auf den Fanbrief eines jungen Autors geantwortet und ihm Mut gemacht hast).

(Der Alles gesagt Podcast der Zeit mit Paul Auster für alle, die die Stimme vermissen werden)