Erinnerungen Holocaust und Familie
Schlussstrich wird es nie geben. Totales Vergessen auch nicht. Und das nicht, weil es der einzige Massenmord der Geschichte oder des 20. Jahrhunderts gewesen wäre.
Der Holocaust geschah aber mitten im ach so „zivilisierten“ Europa, in Deutschland, das sich damals wie heute auf sich selbst und seine Geschichte und Kultur viel einbildet. Beim Aufstieg der Nazis konnte man Deutschland getrost als eine Speerspitze der Moderne bezeichnen – Berlin als kulturelles Zentrum Europas, Spitzenforschung, Philosophenschulen, Erfindungen, Industrie, modernste Kunst, Verwaltungsmeister und was nicht noch alles. Auch Kriegsverlierer, Kolonialmacht, wackelige Demokratie, ja – die Kehrseite dieser Moderne.
Der Holocaust, die Erinnerung und die Folgen des Zweiten Weltkriegs dröhnen, brummen, pochen und schmerzen noch immer in vielen Ländern, in vielen Debatten, an vielen Orten und Menschen auch noch 75 Jahre danach.
Bücher über den Holocaust im 21. Jahrhundert sind fast immer Bücher über das Erinnern oder um zu erinnern. Bei Serge ist es eine Geschichte darüber, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts in einer Familie fortwirkt bis in die Gegenwart. Ein Besuch in Auschwitz verläuft dann ganz anders als erwartet. Bei Monster geht es darum, wie auch die Geschichte eines Massenmords zu Erinnerungskultur und Wissenschaft wird, außerdem Staatsräson und Rituale erzeugt.
Serge
Yasmin Reza schreibt so süffige wie böse und gegenwärtige Theaterstücke und immer wieder Romane wie eben Serge. Darin treffen wir wieder diese scharf gezeichneten Charaktere, ja Typen, die immer für mehr stehen als nur für sich selbst, aber trotzdem keine bloße Konstruktionen sind oder Thesen-Figuren. In diesem schmalen Buch sind es drei Geschwister einer französischen Familie, ein Bruder der Ich-Erzähler. Die Mutter stirbt und die immer vorhandenen und nie gestellten Fragen über deren Erlebnisse im Holocaust führen letztlich zu einer Reise nach Auschwitz.
Wie in Deutschland die Kinder und Enkel der Täter selten fragten, was ihre Eltern und Großeltern in der NS Zeit so gemacht haben, so ist es in den jüdischen Familien offenbar oft genauso gelaufen. Scham, Schmerz, Schuldgefühle, Verdrängung führten zu Schweigen – um weiterzumachen. Die Gefühle sind aber ja trotzdem da und wirken oft an anderer Stelle im Leben, in grotesker, kaum erkennbarer Form um so stärker. Als Entscheidungs- oder Bindungsunfähigkeit oder als eine Art Erstarrung oder Hyperaktivtät oder Depression oder Kälte oder Angst.
Witzig, traurig, unterhaltsam sind die Dialoge und Dynamiken in dieser Restfamilie, es gibt die typischen Geschwisterzwiste und uralte Rechnungen, die immer wieder auf den Tisch kommen, es gibt den Erstgeborenen und die kleine Schwester, es gibt die Angeheirateten, die man nicht leiden kann, und die Neffen oder Nichten, die man für Versager hält – und ihnen doch beisteht. Die drei Geschwister plus die Tochter von Serge, dem titelgebenden, ältesten Bruder, brechen dann zu einer Gedenkreise nach Polen auf. Ihre Erlebnisse, Beobachtungen in Krakau und Auschwitz sind oft absurd, ja sogar komisch oder bizarr. Aber wie sollte es auch anders sein? Die Versuche das Unvorstellbare in dieser Welt in Form eines Museums des Grauens oder einer Gedenkstätte sichtbar zu halten zu halten, scheint jedenfalls aus den verschiedensten, ganz menschlichen Gründen nicht angemessen zu gelingen. Am Ende steht trotzdem eine Annäherung und ein ganz kleiner Neuanfang für die Geschwister.
Monster
Ganz anders funktioniert Monster von Yishai Sarid. Keine Familienaufstellung, sondern ein Mann und sein Beruf: Erinnerung wach halten. In den Vernichtungslagern. Und in einem Museum über die Vernichtung. Die – so würde ich sagen depressiv angehauchte – Hauptfigur schreibt einen Bericht über sein Leben für und mit dem Holcocaustgedenken. Er ist Forscher und führt zahllose Besucher durch Yad Vashem und die Lager in Polen. In Israel aber bekommt er die akademische Stelle nicht, die er sich wünscht – denn die Forschung rund um Massenvernichtung und Genozid unterscheidet sich strukturell nicht von, sagen wir, Medien- oder Umwelt- oder Medizinforschung mit seinen Buzzwords, Trends und Hypes und den undurchschaubaren Fördermittelwettbewerben.
Das ist aber aus Sicht des Erzählers nur der Vorgeschmack dessen, was er in seinem Bericht schildern will: Nämlich die ritualisierte, seltsam gefühlsritualisierte Gedenkkultur. Die Erinnerungsforscherin Almeida Assmann nannte Bücher und anderen Medien „Gedächtnisprothesen“ – die Gedenkorte könnte man ergänzen, sind leider auch nur das. Aber wie funktioniert Erinnern und wozu dient es in Israel, einem Land, das es ohne den Holocaust wohl nicht geben würde? Wie trägt man die Verantwortung von Generation zu Generation und was IST die Botschaft, eines Besuchs in Auschwitz oder Sobibor? Gibt es eine oder auch zwei oder drei humanistische Messages aus dem Gedenken?
Für Sarids Figur jedenfalls, fällt die Antwort negativ aus. Alle, die mit dem Gedenken professionell befasst sind, haben ihre eigenen Ziele. Und bei den Schilderungen der jungen Menschen, die Auschwitz besuchen, scheinen sich das Bewusstsein und die Verantwortung für das Gesehene entkoppelt zu haben. Und da bezieht sich die Figur durchaus auch auf die israelische Politik der Gegenwart.
Für ein ungenanntes Vergehen muss sich dieser Erzähler jedenfalls bei seinem Chef rechtfertigen – und so ist dies eine Art Briefroman über Erinnerungskultur, der Holocaust-Forschung und dem Monster Erinnerung, das sich allen Systemen (Staat, Forschung, politischen Botschaften) entzieht.
Nachwort
Im Holocaust kondensieren sich Ideologien, die moderne Verwaltung westlicher Prägung, Rationalismus und Wissenschaft, Rechtpositivismus, Ideologie, Rassismus. Darin sind Mechanismen und Erfahrungen der jahrhundertelangen Diskriminierung und Ausbeutung der Juden zusammengeflossen. Der Vernichtungsversuch wurde in Deutschland vorbereitet und durchgeführt und dokumentiert durch rationale bürokratische Planung, unterstützt durch Industrie, Transportwesen und Bankwesen und weitere nicht-staatliche Institutionen, die in vorauseilendem Gehorsam mittaten. Niemand musste gezwungen werden. Der Massenmord wurde über Jahre durchgeführt in kühler Kalkulation und beamteter Pingeligkeit. Er wurde auch „wissenschaftlich“ vorbereitet und dann begleitet mit einer abstruse Rassenlehre, wurde auch „wissenschaftlich“ genutzt für sadistische Menschenversuche und Medizinfantasien aus der Hölle. Wurde auch kulturell begleitet von Büchern und Zeitschriften und Filmen und Radiosendungen, die durch Sprache und Bildsprache erst Verachtung, dann Hass und dann die Gleichgültigkeit beförderten, die nötig sind, wenn fast jeder mitmacht oder zumindest nichts dagegen macht oder sich einfach irgendwann nicht mehr wundert, wenn so was passiert (also auch nicht mehr geschockt ist, was eine Gegenreaktion erzeugen könnte).
Und deshalb geht es auch in den beiden Büchern nicht nur um millionenfachen Mord oder Sadismus oder industrielle Vernichtung, sondern um menschliche Abgründe, die kein Ende finden, nur weil nicht mehr in Auschwitz gemordet wird. Oder weil der deutsche Staat oder der Staat Israel heute regelmäßig an den Holocaust erinnern. Es geht viel tiefer.
Umgebracht werden sollten nicht „nur“ die Juden in Deutschland. Das Ziel war, Menschen jüdischen Glaubens in ganz Europa zu vernichten und die jahrtausendalte Geschichte in Europa zu beenden. Aber er machte ja nicht halt bei diesen Menschen, sondern bald wurden allerlei andere Minderheiten ausgegrenzt und ermordet. Es macht nie – einmal begonnen – bei einer Gruppe halt.
Der Holocaust war auch Höhepunkt kapitalistischer Denkweise. Er und der Krieg wurde mit marktwirtschaftlicher Methodik finanziert: erst durch systematische Beraubung der Entrechteten und dann die Versklavung der Gefangenen – Juden, Soldaten, Zivilisten aus den eroberten Gebieten.
Um noch mehr Geld zu verdienen, wurden auch die menschlichen Körper ausgeschlachtet -, nachdem man die Menschen ihrer Besitztümer in der Heimat beraubt hatte und die Immobilien, die Kunst, die Geschäfte, Betriebe, Praxen und Kanzleien verschebelt hatte. Sie wurden also nach und nach ermordet und ihre Dinge und toten Körper zu Geld gemacht: die Haare, ihre Knochen zu Seife gekocht, die Koffer, Brillen, Goldinlays, gesammelt.
Alles erdacht, geplant, gerechtfertigt und durchgeführt von der handgeschriebenen Namens-Liste bis zum Abdrücken bei den Erschießungen oder der Verwaltung von Lagermaterial von den Angehörigen einer vermeintlichen „Hochkultur“ mitten in Europa.
Was die AfD ist und was sie will, muss allen nach der „Fliegenschiss“ Aussage von Alexander Gauland klar gewesen sein – die Innensicht aus Chatgruppen, die Hintergrundinfos und Verflechtungen mit offen faschistischen Gruppierungen, die Rache- und Vernichtungsfantasien in der Partei und ihr ganzes „Menschenbild“ ist nicht mehrdeutig. Wer von Volkskörper und Volkswillen und nationaler Bedeutung schwafelt, nach Schlussstrich und neuem Bewusstsein ruft, sich sich über irgendeine andere Nation oder Gruppe stellt, will das Ende einer offenen Gesellschaft, in der die Freiheit des Individuums das Maß der vorhandenen Freiheit bestimmt. Und die Gleichheit und Gleichbehandlung. Kein Weniger möglich.