Jan Böhmermann: gefolgt von niemandem, dem du folgst

Twitter Tagebuch 2009-2020

Die Welt war eine andere. Klar. Auch die Twitterwelt war eine andere, als Jan Böhmermann zehn Jahre Twitterei in ein Buch band 2020. Vor Corona. Vor Invasion. Zwei Jahre später vom Jünger zum Skeptiker gewandelt, denkt er wegen Elon Musks Übernahme und dessen grotesken Gehabe als Chef des Dienstes über das Ende von Twitter oder jedenfalls sein Ende bei Twitter nach. Und ich lese, wie es mal für ihn war, begeistert 140 Zeichen zu lieben und Millionen Follower zu sammeln.

Ein Buch wie das Höhlengleichnis von Platon: Abbild der Wirklichkeit, der wir in Eigenleistung sehr viel (Text/Hintergrund/Zusammenhänge) hinzufügen müssen, um es als Etwas zu erkennen. Ein unterhaltsames Buch, das fast schon nostalgisch wirkt, weil bei allen Debatten und Shitstorms damals, die Debatten heute, nur zwei Jahre später, noch krasser, die Shitstorms noch seltsamer, die Cancelei noch schneller und die Aluhüte, AfD Pimmel und Pimmelisen noch zahlreicher geworden sind. 

Drei überraschende Erkenntnisse für mich:

1. Man kann Tweets und Replys und Threads auch auf Papier gut lesen.
2. Durch die Linse/Worte nur eines Users die kommentierte Real-Welt zu sehen, macht Spaß. Wie Fiktion zu lesen z.B. in einem Roman.
3. Ohne die Aktualität, das strenge JETZT&HEUTE, in dem wir sonst Tweets lesen, wirken die klugen Sachen noch klüger und die schnellgeschossenenen noch schwächer. Da Jan Böhmermann das sicher beim Editieren auch gemerkt hat, ist wohl der stärkere Teil aber sicher kleinere Teil seiner Tweets ins Buch gedruckt. 

Als ich 2007 bei Twitter loslegte schafften wir es bei der Berlinale sogar ins Mittagsmagazin des ZDF, nur weil wir twitterten. Da war der Dienst noch sehr Kleinst-Bubble von Techies und Themen-Nerds. Wir mussten erklären, was Tweets und Twitter und die 140 Zeichen-Grenze überhaupt ist.
Heute ist es die große Medien- und Politikbubble für Text und Tempojunkies, die aber vergleichsweise (Facebook, TicToc, Insta…) immer noch klein ist. Dafür sehr relevant für relevante Leute. Leute die entscheiden, die lenken, die Stimmung, Politik und Medien machen. Und Böhmermann ist einer davon. Hart, kühl, klug, ironisch und selbstironisch, seine Tweets oft gut beobachtet, gut verdichtet, sehr jetzt und doch manchmal mit einer Ebene drüber versehen, die viele seiner Tweets zeitlos macht, weil sie etwas über Gesellschaft, Politik, Medien als solche erzählen. Dazu kommen Wortspiele, Nonsens, Medienmetaebenen-Fotzeleien, situationskomische, politikfreie Kloeinfälle.

Durch Böhmermanns Tweets und die Antworten und den Hate anderer User, die teilweise auch gedruckt wurden, konnte ich das Geschehen meist wieder erinnern. Wie bei einem Foto, das Erinnerungen an ganze Abläufe wachruft. Aus 140 Zeichen heraus ganze Skandale oder Debatten oder Politgefechte erinnern können aber wohl nur die, die auch damals Zeitung gelesen, die Medien verfolgt haben oder auf Twitter aktiv waren. Also genau die Medien und Politikheinis, die Twitter benutzen. Es bleibt eine Bubble.

Höhlengleichnis: Als Abbild eines Geschehens sind Tweets extrem reduziert. Selbst ein längerer Zeitungsbericht mit 1500 Zeichen ist nur ein Schatten der Wirklichkeit an der Höhlenwand, den wir laut Platon mit dem Rücken zum Ausgang beobachten. Platon, der übrigens aufgeschrieben hat, was sein Lehrer Sokrates nur sprach, weil der alles Geschriebene ablehnte. Sokrates hielt das Schreiben für eine Schwächung unseres Gedächtnis. Texte würden bloß eine Illusion von Weisheit vermitteln, könnten Dialog nicht ersetzen, da sie nur scheinbar Antworten auf Fragen gäben. Twitter ist Text und lädt immerhin zum Dialog ein (der dann aber oft mißlingt). Aus dialogisch orientierten Text ist nun wieder ein Buch geworden, das nur scheinbar Antworten auf Fragen gibt.