Das gilt immer: KÄMPFEN von Karl Ove Knausgard

 

Dieses Knausgard Buch ist beglückend und erhellend. Knausgard hat eine über viertausend Seiten umfassende, sechsbändige Serie  in nur drei Jahren geschrieben (der letzte Band schon 2011 in Norwegen erschienen). All das, um sein Leben zu erzählen. Aber es ist keine Autobiografie. Die Bücher sind nicht chronologisch. Und Knausgard war bis zum Erscheinen der ersten drei Bücher nur Experten skandinavischer Literatur ein Begriff, eine Biografie zu schreiben wäre also einigermassen vermessen erschienen. Und weil Knausgard, wie wir lernen in seinen Büchern, durch mangelndes Selbstbewusstsein und ewige Selbstzweifel gequält wurde, wäre er wohl als letzter auf die Idee gekommen, sein Leben zu erzählen. Er meinte nämlich: Was hab ich schon zu erzählen.

Und dann stirbt sein Vater. Und Knausgard wählt die radikale Erinnerung mit (weitgehend) Klarnamen und beschreibt hochdetailiert einfach nur Alltag aus Aufstehen, Arbeiten, Studium, Saufen, Kinderkriegen und -haben, Kaffeetrinken, Putzen, Kochen, Rauchen, Reden. Unterbrochen von Reflexionen über das Große und das Ganze, sein Leben, die Kunst, die Welt, die Menschen, Gefühle, Schreiben, Wollen und Können, Scheitern und Glück. All das erregte eine Menge Menschen. All das traf einen Nerv. All das hat mit uns zu tun, auch wenn es scheinbar nur um einen speziellen Mann geht, seine Jugend, seine Karriere, seine Familie. Unsere Gegenwart.

Obwohl nichts Skandalöses, Verbotenes oder Ehrpusseliges, keine Gewalt, kein Sex, keine Perversionen in dem Buch passieren, sondern nur die Dinge, die eben jeden Tag irgendwo passieren:  Onanie, Wut, Eheprobleme, Schuldgefühle, Angst, Frustration, Depression, Hemmungen, Fluchtgedanken, zu viele Zigaretten und Alkohol, zu wenig Liebe, obwohl also eigentlich niemand sich „generell“ über etwas ereiffern kann, geschah genau das. Unheimliche Aufregung, Pressehysterie, Anwälte, Empörung in Norwegen – und ganz viel Begeisterung. Und von dort gingen die Bücher in die ganze Welt.

Offenbar steckt im alltäglich Sozialen, in diesem Kennen-wir, Machen-wir-auch, ja sogar in dem sehr speziellen Alltag eines schwierigen Norwegers eine enorme Kraft, eine beängstigende Direktheit, ja allgemeingültige, Kultur- und Generationen Grenzen überschreitende Wahrheit. Auch wenn er es Roman nennt und dramatische Elemente einbaut, sein Leben editiert und verkürzt und gleich selbst bewertet. Inzwischen ist diese Form des Schreibens, das so genannte „Memoir“ das Ding im Literaturbetrieb, wie es vor einigen Jahren die Familienromane mit einem Nazipapa oder -opa waren.

Die Grenze

Interessant ist über die ganzen 1200 Seiten dieses sechsten und letzten Bands hinweg die Frage, „Wo findet der Übergang statt?“ Die typische Frage nach einer Lesung ist ja: „Habe sie das selbst erlebt, getan, gedacht, gefühlt…?“ bzw. „Ist das wirklich passiert?“ Es gab also immer diese Verwechslungsgefahr der Gedanken und des Geschehens in Romanen mit den Ideen und Taten des Autors. Und: iktionalen Männer und Frauen können wie Freunde werden, Frank Bascombe oder Marco Stanley Fogg, Jesse Pinkman oder Tony Soprano – alles Freunde von mir, die  gern mal wieder vorbeikommen können.

Paradox bei der in Norwegen öffentlich geführten Debatte über diesen Roman, wieso die übelsten skandinavischen Krimis, in denen sich Autoren krasse Gewalt und abstoßenden Sex, zerstückelte junge Mädchen, Triebtäter, sadistische Väter, serienmordende, hasserfüllte, durchtriebene, hinterhältige, bösartige Menschen ausdenken, die von psychisch labilen, kranken, selbst gestörten, hasserfüllten, alkoholkranken Kommissaren gejagt werden – wieso hier niemand auch nur mit der Wimper zuckt oder und den Autor für ein Schwein hält und Journalisten sich aufmachen, in dessen familiären Umfeld nach Zeugen zu suchen, die erzählen wie krank im Kopf der Mann oder die Frau wirklich ist, wer dem Autor als Vorlage diente und so weiter. Da wird nicht wegen des so bitter, detailreichen Figurenhintergrunds eines schlagenden, sexuell übergriffigen Vaters im Roman, der Autor oder der Vater selbst verdächtigt, genau das zu sein.

Alltag berührt Schöpfung

Aber es gibt einen dünnen Auslass, der die eigenen Gedanken und Fantasien und Perversionen und Lüste und Träume in die Wirklichkeit entlässt, oder genauer: wo sie sich berühren wie die Hände in der Decke der Sixtinischen Kappelle im Vatikan. Und zu Leben werden.

Das Alltägliche das Knausgard bis in Detail beschreibt, dieses Leben mit drei Kindern, einer Ehe, die mal besser, mal nicht so gut läuft, einem stupiden Alltag aus Haushalt, rauchen und schreiben und gelegentlichen Reisen und vielen, vielen Gedanken zum Schreiben, zu seinem stupiden Alltag und auch vielen geistigen Dingen. Er schreibt zu seinem Leben, zu seinem Vater, zu dem was der Roman mit den Menschen in seiner Nähe macht, darüber, warum sein Onkel ihn nach der Veröffentlichung einer der ersten Bände hasst und mit allen juristischen und gesellschaftlichen Mitteln bekämpft und ob seine Frau ihn noch liebt.
Er schreibt über die Probleme seiner Frau, aber vor allem seine eigenen Unzulänglichkeiten, Komplexe, Ängste, seine Manien und Überforderungen bei Arbeit, Familie und Freunden. Über seine Schuldgefühle, diese Romane geschrieben zu haben. Er entschuldigt sich auf den letzten Seiten dafür nochmals bei seinen Kindern.
Seine Frau ist manisch-depressiv, und wie er diese Episoden beschreibt, ist beängstigend und bedrückend und ganz nah. Sie ist wie sie ist, mal zu schnell, mal fast tot, mal leer, mal brillant, mal kindisch, mal anmaßend usw. und ist dabei nur aus seiner Sicht nicht „sie selbst“. Er dagegen schreibt nach eigener Aussage mit seinen 6 Romanen und ihren vielen 1000 Seiten gegen das Gefühl an, nicht sein eigenes Leben zu leben, das Leben eines anderen zu leben, nicht „authentisch“ zu sein. Und so findet er in der Fiktion, die für den Leser die Wirklichkeit ist, seine Erlösung.

Der Hitler und der Künstler

KÄMPFEN enthält ein brillantes 400 Seiten Essay über Hitler, dessen Jugendjahre und sein Suchen nach künstlerischem Ausdruck in der von ihm verachteten Welt, seine (vermutlich emotionale, sexuelle) Störung, sein selbstverliebtes, verbohrtes Gerede als junger Mann, sein Absturz in die Obdachlosigkeit, die Rettung durch den Krieg und der kaum zu fassende Aufstieg zum weltweit mistgehassten und bekanntesten Diktator und Welternvernichter.

Knausgard analysiert flankiert von langen Zitaten aus MEIN KAMPF, und damit das Buch, das auch seiner Romanreihe den Titel gab (in Deutschland bekamen die sechs Bücher, aus verständlichen Gründen andere Titel).
Knausgard seziert der geistige und zivilisatorische Bruch im ersten Weltkrieg, ohne den es Hitler und einen zweiten nie gegeben hätte, er liest Ernst Jünger, Heidegger, Arendt usw. Er betrachtet die Kommunikation Hitlers, sein überragendes Talent zu reden und in den Massen zu lesen, bei seiner weiter anhaltenden Unfähigkeit zu Nähe (außer zu Kindern und Hunden offenbar) und gleicht seine Gedanken mit Zeitzeugen, anderen Quellen und dem gesunden Menschenverstand ab, diskutiert wie ein Wissenschaftler aber ohne Fußnotenapparat die Glaubwürdigkeit der Quellen usw..

Hitlers erst später entstehender, dann aber krankhafter Antisemitismus, der NS Totenkult, die Sehnsucht Hilters und der Massen nach Zerstörung des Individuums für einen höheren Zweck, das Volk, den Führer, all das wird erörtert. Um schließlich den Bogen zu schlagen zur Suche nach dem Absoluten, die Künstler und eben auch der Nationalsozialismus anstrebten.

Mann könnte jetzt lang darüber schreiben, dass Geschichtsschreibung eben auch nur Fiktion ist, auf Quellen basiert, die Menschen gemacht haben (meist) und dass ein Schriftsteller ebenso mit Quellen arbeitet in einer Mischung aus Fiktion und Vorgefundenem, aus erdachten Kausalitäten und dramatischen Momenten. Aber besser und nachvollziehbarer als in Knausgards Essay, habe ich das noch nie gelesen.

40 Jahre Einsamkeit

Es ist aber auch ein Buch über das Schreiben und den Wunsch das, und sonst nichts, zu tun. Klar, die Kinder liebt man, die Frau auch, die Familie, die (wenigen) Freunde braucht und schätzt man – aber eigentlich ist er dann am meisten bei sich, wenn man allein ist. Und dieses bei sich sein, die geheimen Gedanken und Nöte, die Fiesheiten, Ungerechtigkeiten, Urteile über andere, die kleinen Niederlagen und Peinlichkeiten, die widersprüchlichen Gefühle, niederen Beweggründe, die peinigenden Momente, wo man sich selbst als verlogenes Arschloch, ruhmsüchtiger Kleingeist, schlechter Vater, fremdgehverlockter Ehemann oder so gar nicht heroischer Egomane erlebt, diese Momente erzählt Knausgard auch.

Ob nun all das wirklich genau so passiert ist. Sicher nicht. Ob die Menschen, die er beschreibt, wirklich genau so sind, wie in dem Buch erzählt, wohl nicht, aber sicher nah dran. Jedenfalls aus der Sicht des Autors heraus betrachtet. Denn natürlich kann auch er sich nicht befreien aus dem Fluch, dass wir nur sehen, was wir kennen, dass wir sehen, was wir gelernt haben, dass wir verstehen, was wir brauchen, dass auch ein so kluger, aufmerksamer Autor die „Wahrheit“ von der Knausgard auch oft schreibt, schon allein dadurch verfälscht, dass er dabei ist.

Was gewesen sein wird

Aber das ist alles gleichgültig, denn es ist ja ein Roman, der Wirklichkeit wird, auch für die, die darin vorkommen. Und dann IST es so gewesen. Ab jetzt wird es so gewesen sein. Denn wie die Fotos in einem Album, die am Ende alles zeigen, was der Urlaub war, obwohl er natürlich viel, viel mehr war, so werden die sechs Bücher jetzt das Leben erzählt haben, wie es (für Knausgard) war.
Vielleicht sogar auch für die Figuren im Buch, die wie in dem Phänomen, dass man eine Geschichte aus der Jugend erzählt um irgendwann zu erfahren, dass man gar nicht dabei war, als das passiert ist, sie aber so oft gehört und dann selbst erzählt hat, dass man fest davon überzeugt ist, dass man dabei war.

Und jeder der an die ungetrübte Wahrnehmung des Menschen glaubt, sollte nur mal fünf Zeugenbefragungen nach einem Unfall lesen, die sich oftmals nichtmal auf die Farbe der beteiligten Autos, geschweige denn auf die Abläufe und Ursachen dieses simplen Zusammenstoßes von zwei Fahrzeugen einigen könnten.
Und doch meinen wir, wenn wir von einer Begegnung erzählen, von einem Kuss, von einem Streit oder wenn wir über diese Ereignisse nachdenken, wenn wir Erinnerungen schildern an Kindheit und Eltern, bei all dem meinen wir, „Das war so“. Ganz sicher nicht.
Weshalb es allerdings nicht weniger wahr ist. Es ist so wahr wie ein Roman. Es ist die Wirklichkeit, wie wir sie sehen, es ist mindestens von da an, unsere Wirklichkeit. So lange, bis auch die den Bedürfnissen wieder angepasst wird. Das unzuverlässigste Element der Wahrheitsfindung sind unsere Erinnerungen.

My Generation is this

KÄMPFEN hat auch in den langweiligsten, detailverlorenen Alltagsmomenten und obwohl ich ja diesen Karl-Ove nicht kenne und niemanden in seinem Umfeld, auf eine geheimnisvolle Weise mit mir zu tun. Ein Rätsel, das zu lösen, mir nicht nicht gelang. Es findet eine Identifizierung mit diesem Mann statt, die manch typisch fiktionalen Roman weit überschreitet. Er ist ungefähr so alt wie ich, er hat eine Familie, er schreibt, aber da enden die Offensichtlichkeiten. Und totzdem fühlt es sich nach mehr an, nach sehr viel mehr.

Was unterscheidet das alles vom Tagebuch? Inhaltlich, zumal das Tagebuch eines Autors, vermutlich nicht viel. Aber KÄMPFEN ist nicht als Tagebuch verfasst worden, sondern in dem Bewusstsein Roman zu sein und für die Öffentlichkeit gedacht. Und das ändert alles. Zumal die letzten 3 Bücher nach der Veröffentlichung und der Aufregung um die ersten drei entstanden.
Deswegen quälten Knausgard die Gedanken an all die Geheimnisse und das sonst abgeschirmte, aber nun öffentlich gemachte Familiengeschehen und Beziehungsprobleme und Konflikte sicher schon beim Schreiben. Man denkt und vor allem fühlt einfach anders, wenn man explizit von sich selbst und mit richtigen Namen von anderen Menschen schreibt. Wenn man weiß, dass einige 100.000 Unbekannte das lesen, wie man sich einen runterholt oder Details eines zermürbenden Ehekriegs erfahren oder wie man den unfähigen Vater zwar bloßstellt, aber auch als er tot ist, den Schuldgefühle und Liebe und Wut nicht entkommt.

Jesus Freak

Es hat fast etwas Jesus-haftes: Seht her, ich bin ein Mensch. Ich bin wie ihr. Und wie Jesus es vielleicht war, ist er zugleich mehr – nicht Gott vielleicht, aber einem Gott nicht unähnlich. Denn Knausgard erschafft eine Welt und Menschen in seinen Büchern. Wir hören ihm zu, weil er als Autor irgendwie über uns schwebt und spricht, wie jeder gute Autor das tut, und uns – auch wenn es eine Gedanken, sein Leben, sein Blick auf die Welt ist – über unser Leben nachdenken lässt.

Und da es ja vor allem um Familie geht in dem Buch, erzählen die Reaktionen auf seine Bücher, die in KÄMPFEN ebenfalls ausführlich erörtert werden, auch etwas über das Konstrukt Familie. Und jeder,

Kämpfen von Karl Ove Knausgard, deutsches Layout denkbar öde…

der einmal erzählt bekommen hat, vor allem von einem Nicht-Familiemitglied, dass der eigene Vater etwas Widerliches getan hat, wird, obwohl er vielleicht kein gutes Verhältnis zu diesem Vater hatte, erleben, wie wer sich schützend, mitunter empört vor diesen Vater stellt – trotz allem.
Und wer selbst einmal den Teppich einer Familie in deren Gegenwart angehoben hat, kennt die erstaunliche Tempo, mit dem selbst zerstrittene Teile der Familie sich verbünden, um den Angriff abzuwehren. Filmisch wohl am besten erzählt in DAS FEST.

Es ist kein Tagebuch. Es ist kein Roman mit anstössigem Inhalt (selbst bei Lolita wurde nie Nabokov unterstellt pädophil zu sein, sondern das Thema brachte das Buch auf den Index, und auch bei Tod in Venedig, wurde nicht Thomas Manns homosexuelle Attraktion eines Minderjährigen thematisiert). Das Buch erzählt im Anspruch „wahr“ zu sein, in seiner Maßlosigkeit von Details und Themen (Alltag, Schreiben, Familie, Philosophie, Familienurlaub, psychische Probleme, Adolf Hitler, Norwegens Kunstszene und Erinnerungen) vom Leben. Wie es ist. Zwar für jemand anderen, einen klugen Mann, aber nur jemand, der nicht wir sind, aber mit uns hier ist. Womit man wieder bei Jesus wäre und dem Punkt, wo Wunsch, Fiktion und Wirklichkeit sich berühren. Am ehesten der Ort, wo man Wahrheit findet. Ein ganz ganz großes Buch.