Was soll man in 600 Worten zu einem Roman von fast 900 Seiten sagen? Dass er mich in seiner „grandios verlaberten“ Sprache, mit seinen Gedankenschleifen und den en détail beschriebenen Alltagshandlungen, dem Aufräumen und den Autofahrten, dem und Tür-auf-Tür-zu und den endlosen klugen, albernen, erschütternden, beruhigenden, schauderhaften und wunderbaren Gedanken dazwischen, dass er mich von der ersten bis zur letzten Seite getragen hat! Die Welt geht unter, aber das Leben geht weiter.
Ja, ich bin ein Knausgardfanboy. Je dicker seine Bücher, desto besser. „Morgenstern“ spielt an zwei Tagen eines Sommers in Norwegen, in dem etwa zehn (habe sie nicht gezählt) Figuren so ihr Leben leben. Sie machen sich ihre Gedanken über sich selbst oder die anderen oder ihre Ehe oder ihre Arbeit oder die Welt an sich. Auch über Tod und Liebe und Familie. Und tun ansonsten, was man im Sommer so tut: Abhängen, schwimmen, zu viel trinken, draußen rumlaufen, drinnen lesen, feiern, mit Freunden und Familie reden – manche gehen arbeiten oder zur Schule oder in den Wald. Manchen geschieht ein Unglück oder sie richten selbst eins an.
Und dann geht ein neuer Stern auf, größer als alle anderen am Himmel. Ein Morgenstern. Und es geschehen seltsame Dinge, die aber immer nur die eine oder andere Figur auch wirklich als seltsam erkennt. Und dann doch weitermacht, als wäre nichts. Tiere wandern in Massen umher, verhalten sich befremdlich, Kultstätten im Wald werden von jemand oder etwas errichtet, dann scheinen Dämonen ins Diesseits zu dringen wie durch ein Stranger Things Portal. Und wir Menschen können nicht mehr sterben. Keiner. An nichts. Außer der Dämon holt sie.
Die ganze Zeit wabert eine Mischung aus Erwartung und Angst durch das Geschehen, die Ahnung des Großen verliert sich im Weitermachen des alltäglichen Kleinklein. Die erwähnten Alltagshandlungen und Probleme und Gedanken wirken fast paradox. Denn sie bekommen zugleich eine enorme Bedeutung als „Inhalt unseres Lebens“ im Angesicht des Endes, und sie sind, was wir sind. Ob postpubertäre Selbstzweifel, Fremdgehen, Arbeitsalltag in Redaktionen oder psychiatrischen Anstalten, endlose Familienorga (die wir aus Knausgards „Kämpfen“ schon seitenweise kennen), eskalierende Partys und Teenagerangst, sogar eine Beerdigung ohne Taurgäste – Knausgards Figuren stecken alle mitten in ihren kleinen Leben und verkorksten Beziehungen und dem ganzen verwirrenden Scheiß – und müssen dann plötzlich den Blick heben. Erstmal nur auf den Stern und dann auf sich.
Etwas Übermenschliches, Einmaliges, Großes passiert. Sie spüren es alle, beruhigen sich aber zunächst selbst: Wir wissen doch, wie die Welt funktioniert, oder? Das kann doch nicht sein, oder? Sie lassen sich auch beruhigen von den Fernseh-Experten, die uns alles rational und damit ungemein beruhigend wegerklären. Es kann nicht sein, dass etwas passiert, das außerhalb von Ursache und Wirkung, ja etwas, das außerhalb von Zeit und Raum steht. Wir sind wie Kinder, deren Naivität, vielleicht Unschuld, sie schützt vor den bitteren, düsteren Erkenntnissen. Aber das Chaos und das Nichts, sie sind da. Immer schon.
Ohh, ich liebe dieses Buch. Knausgard umkreist in zwei Tagen und zwei Nächten das Unsagbare und Undenkbare. Dass eine Welt jenseits unserer existiert, dass Tod und Leben nicht getrennte Welten sind, dass unser banaler Alltag doch Teil von etwas viel Gewaltigerem ist hier im Universum. Und dass wir verlernt haben, die Zeichen zu lesen. Das Ganze erzählt er ohne Pathos oder prophetisches Geraune. Mir kamen eher Gothic Romane wie Denis Johnsons „Schon Tot“ oder die Bücher von Stephen King in den Sinn. Auch dort verschwimmen die Welten – Monster, Geister, Untote und unser schnödes Diesseits. Und bei King und Johnson ist spürbar, dass der Besuch von Geistern, Monstern und Dämonen, schiefglaufene Rituale oder verfluchte Orte, Manifestation von etwas Größerem sind, das die ewige Kleinstadt in Maine (King), oder der Landstrich in Nordkalifornien (Johnson) zwar weit weg von allem und idyllisch scheinen und doch verbunden sind – mit dem Bösen, dem Übersinnlichen, dem Totenreich und allem, das wir nicht wissen oder wissen wollen.
Und so ist die hübsche Sommerhausgegend am Fjord, umgeben von Wäldern irgendwo bei Bergen nur ein Ort wie jeder andere, an dem erkennbar wird, was sein könnte. Wenn man hinsieht und es zulässt.