Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee

Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee

Noch ein Rothmann Buch über den Zweiten Weltkrieg? Dachte ich, als ich den Roman in der Buchhandlung sah – und hab es natürlich trotzdem mitgenommen. Für einen Rothmann Fan der Ruhrgebietsbücher und der Berlin Bücher über die Erzählungen bis zu den Kriegsbüchern selbstverständlich! Ich mag seinen unprätentiösen, dabei immer wieder zarten oder lyrischen, dann harten und gewollt löchrigen Erzählstil einfach sehr. Er schafft keine Figuren, sondern Menschen mit Brüchen und Widersprüchen und all diesen unterdrückten Wünschen und gefangen in Zwängen und Verlusten, er schafft Schicksale. Auch in diesem Buch wieder.

Der dritte Roman über die letzten Kriegstage in Deutschland und die unmittelbare Zeit danach (Im Frühling sterben, 2015, Der Gott jenes Sommers, 2018). Rothmann folgt offenbar der Logik des Blues, oder des Rock. Da ist es auch die immer neue und scheinbar unerschöpfliche Variation des immer gleichen. Die Figuren wieder mit ähnlichen Erlebnissen an den gleichen Orten wie in den beiden Vorgängern. Nur mit etwas anderen Schicksalen oder Entscheidungen, die aber doch wieder in ähnliche Leben münden.

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Stefan Klein: Wie wir die Welt verändern

Stefan Klein: Wie wir die Welt verändern

Eine kurze Geschichte des menschlichen Geistes

Der Titel ist ein bisschen irreführend, weil es im Buch vor allem darum geht, wie die Welt UNS über viele 100 Millionen Jahre geprägt hat und sich plötzlich „der Mensch“ in der (erdhistorisch / evolutionär) extrem kurzen Zeit von 100.000 Jahren die Welt ganz neu erschließt, aber nicht groß verändert. Durch die Fähigkeit abstrakt zu denken, Symbole zu schaffen, zu planen, Werkzeuge zu schaffen, also vor allem dadurch, dass wir Ideen haben und sie in die Tat umsetzen haben wir sie verändert – in den letzten 500 von 4,6 Milliarden Jahren.

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Karl Ove Knausgard: Der Morgenstern

Karl Ove Knausgard: Der Morgenstern

Was soll man in 600 Worten zu einem Roman von fast 900 Seiten sagen? Dass er mich in seiner „grandios verlaberten“ Sprache, mit seinen Gedankenschleifen und den en détail beschriebenen Alltagshandlungen, dem Aufräumen und den Autofahrten, dem und Tür-auf-Tür-zu und den endlosen klugen, albernen, erschütternden, beruhigenden, schauderhaften und wunderbaren Gedanken dazwischen, dass er mich von der ersten bis zur letzten Seite getragen hat! Die Welt geht unter, aber das Leben geht weiter.

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Lidewey Van Noord: Pellegrina – eine italienische Radsportwallfahrt

Lidewey Van Noord: Pellegrina – eine italienische Radsportwallfahrt

In Deutschland ist Rennradfahren ja ein Nischensport wie Feldhockey. Selbst Sportfans kennen meist nur „Ulle“ Jan Ulrich und die Tour de France. In Italien ist der Giro, der Radsport, ein nationales Kulturgut wie die Pizza. Genauso in Belgien und Frankreich und den Niederlanden, von wo die tolle Autorin Lidewey van Noord kommt.

Das Buch ist was für Hardcore Fans: von Radsport und Giro D’Italia. Atmosphärische, knappe und bewegende Geschichten, begleitet von menschenleeren Fotos. Alle Kapitel drehen sich um heilige Rennradfahrer, Schutzheilige der Rennradfahrer, anbetungswürdige Berge und Leistungen – und auch die Scheinheiligkeit des Doping.

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Juli Zeh: Über Menschen

Dora hat mitten in Corona ein Haus auf’m Dorf in Brandenburg gekauft. Weil ihre Beziehung am Ende ist. Und sie als Senior Copywriter / Texterin offenbar spürt, ihre Seele zu verkaufen – auch wenn sie für eine Agentur arbeitet, die total woke und korrekt Firmen mit Nachhaltigkeits- und Weltrettungskonzept berät. Und sich wenn es darauf ankommt, trotzdem verhält wie alle.

Also Flucht in eine Brandenburger Halb-Ruine mit viel zu großem Garten. Die Bewohnerin ohne blassen Schimmer von Gartenpflege oder Anbau und Handwerk. Nebenan wohnt der selbsternannte Dorfnazi. Er wirkt wie der „einzige Schwule des Dorfs“ aus der Little Britain TV Satire: Ihm gefällt die Rolle des Außenseiters. Statt Hure mit goldenem Herz, ist Gote der Nazi mit dem Herz am rechten Fleck. Das ist ein Klischee. Aber mit Ungereimtheiten. Zeh bricht im Roman so einige Brandenburg Klischees auf und füllt sie mit menschlichen Widersprüchen und Liebenswürdigkeiten und zeigt beschädigte Typen, die irgendwie „echt“ sind.

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Ulrike Sterblich: The German Girl

Ulrike Sterblich: The German Girl

Mona ist eine junge Frau aus Berlin, die Ende der 60er Jahre in New York als Model arbeitet – besser arbeiten will. Denn genau wie Carrie Bradshaw aus „Sex in the City“ scheint sie nie wirklich zu arbeiten, sondern geht auf Partys, lernt Männer kennen, trifft schräge Typen und Typinnen und ist dabei auf der Suche nach sich und er wahren Liebe.
Als Unterstützung bei der Suche und dem stressigen NY Leben holt sie sich Spritzen bei „Dr. Max“ – einem der berühmten Feelgood Doktoren, die ihren „Patienten“ Speed spritzen und das ganze Vitamine nannten. Am Ende wird Mona heiraten und der Dr. wird vor Gericht gestellt. Ende.

Außer Monas Sinn- & Partysuche nebst kurzer Reise in die Frontstadt Berlin, wo gerade Dutschke angeschossen wurde, gibt es auf zwei, drei Kapitel verteilt die Recherche eines Forensikers, der den Tod eines Speed-Junkie aufklären will und dabei den Feelgood Doktor Max ins Visier nimmt, den auch Mona besucht. Und am Ende wird auch auch seltsam unvermittelt noch die Recherche eines Journalisten in die Geschichte gepresst, der die Speed-Doktoren-Ära aufarbeitet – während die Hauptfigur einfach aus der Geschichte fliegt, bzw. in ihr versinkt.

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Stephen King: Salems Lot & Friedhof der Kuscheltiere

Stephen King: Salems Lot & Friedhof der Kuscheltiere

Auch nach sicher 35 Jahren erinnere ich mich genau, wie ich damals nach der Lektüre von Kings Salems Lot (Brennen muss Salem) in meinem Bett im Souterrain lag, in der Frotteebettwäsche mit den seltsamen Mustern, die Fantaflasche neben meinem IKEA Bett und das Buch zur Seite legte. Einzuschlafen gelang mir erst, als ich das Knacken gefolgt von Stille, das Wummern einer Windbö dann wieder Stille nicht mehr deutete, mir ein Lied vorsummte und an eine Fernsehserie wie Ein Colt für alle Fälle dachte. Vielleicht war das letzte Mal, das ich vor Angst das Licht anließ zum Einschlafen.

Beim Wiederlesen dreieinhalb Jahrzehnte später, auf Englisch, weil die deutsche Übersetzung von Salems Lot, die ich noch im Schrank hatte, unerträglich war, ist es das gleiche packende, breit und charakterlich tief und so gar nicht Horror-Effekt haschende, sondern schlichtweg unheimliche, thrilling Buch.
Mit dem fast gleichen Effekt wie damals: dass ich nämlich beim Gang in unseren dunklen Flur ein, zwei Sekunden lang ein diffuses Achtung! spüre.

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Lisa Halliday: Asymmetrie

Lisa Halliday: Asymmetrie

Roman Hanser, 315 Seiten, 2018

Empfehlung – man glaubt es kaum, aus dem Internet. Von einem Vielleser. Und ja, sehr eigenwilliges Buch. Als ich es dann bekam, hatte ich vergessen, worum es ging und begann zu lesen. Weltbekannter Schriftsteller, Ezra Blazer, und junge Verlagsangestellte Alice begegnen sich, er will sie, sie willigt ein, es wird eine geheime Affäre. Es geht in den Gesprächen und Gemeinsamkeiten um Ticks und Krankheiten, um spezielle Marmeladen oder Smoothies, natürlich um Bücher (aber eher selten), um bestimmte Hemden und Socken, Sex und Alkohol, Krankheiten, nötige Operationen und Baseball.

Das Leben der beiden findet in Blazers Apartment mit Blick auf den Central Park und die ganze Stadt oder einem großzügigen Haus auf dem Land statt, wohin er sich zum Schreiben im Sommer zurückzieht. Wenn er weg ist, scheint Alice verloren. Wenn er da ist, irgendwann unsicher, wohin das führt, und was sie davon hat. Er mag sie, sie mag ihn, zwei kluge Menschen sehr unterschiedlicher Generationen, Erfahrungen und an den beiden Enden der (beruflichen) Parabel.
Das ist witzig, klug, hellsichtig geschrieben, der Blick auf den Überfluss, der sich im Kleinklein bestimmter Qualitäten von Produkten zeigt, die Lust auf Texte und den großen Unterschied zwischen Leben und Text – vor allem den eigenen und das eigene. Beide sind sich des Klischees bewusst, dass sie da leben. Beide wissen, es hat keine Zukunft, aber na und? Was hat schon Zukunft, außer das Leben selbst?

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Dan Kieran: Slow Travel

Dan Kieran: Slow Travel

Heyne Verlag 2014, 222 Seiten

Vorwort kommt von einem Mann, Tom Hodgkinson dessen „Leitfaden für faule Eltern“ mir eine kleine Lockerungsübung in der Eltern-Performance-orientierten Welt von heute bot: Lasst die Kleinen mal allein und allein machen, selbst machen. Bleib locker und trink ruhig noch ein Bier auf dem Geburtstag deines Kindes, statt auch nur wieder alles im Griff haben zu wollen und aus der Orga!-Schleife gar nicht mehr rauszukommen, die modernes Familienleben heute bedeutet.
Dieses Reisebuch von einem Freund und Kollegen von Hodgkinson zielt in eine ähnliche Richtung – und passt deswegen so gut in eine Zeit, die von digitalem Fasten faselt und Achtsamkeit sucht und in der Leute unfähig geworden zu sein scheinen, irgendwas dem Zufall zu überlassen oder auch nur eine Sekunde Stille vulgo Langeweile zu ertragen. Kieran schildert sein eigenes Erweckungserlebnis, als er einfach von seinem Haus losging und dabei Abenteuer erlebte, weil er nicht wusste, wo er hinkommen würde, wie es dort aussähe und wie die Dinge zwischen seinem Haus und diesem unbekannten Ziel laufen würden.

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Haruki Murakami: Kafka am Strand

Haruki Murakami: Kafka am Strand

Nach einigen begeisterten Lektüren vor sicher zehn oder 15 Jahren (die Kurzgeschichten, Hard Boiled Wonderland, Naokos Lächeln) und einigen gescheiterten Leseveruschen (Mr. Aufziehvogel, Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki), weil die Geschichten mich nicht über Seite 100 ziehen konnten, war diese surreale Alltagsgeschichte, dieser dicke Romans mit zwei Hauptfiguren, sprechenden Katzen und sowohl einer zweiten Dimension wie Bedeutung, ganz leicht zu lesen.

Zwei Welten und Erzählungen näher sich immer weiter an und berühren sich schließlich ganz leicht: Ein Strang ist der 15-jährige Kafka, der andere der leicht minderbemittelte Nakata (der von einer Reise auf die andere Seite so lädiert zurückkehrte). Alles spielt sich in einer seltsamen Bibliothek und eine noch seltsameren Berghütte, rund um einen geheimnisvollen Stein und regnende Fische und diverse Hotels und Unterschlüpfe ab.

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