Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee

Noch ein Rothmann Buch über den Zweiten Weltkrieg? Dachte ich, als ich den Roman in der Buchhandlung sah – und hab es natürlich trotzdem mitgenommen. Für einen Rothmann Fan der Ruhrgebietsbücher und der Berlin Bücher über die Erzählungen bis zu den Kriegsbüchern selbstverständlich! Ich mag seinen unprätentiösen, dabei immer wieder zarten oder lyrischen, dann harten und gewollt löchrigen Erzählstil einfach sehr. Er schafft keine Figuren, sondern Menschen mit Brüchen und Widersprüchen und all diesen unterdrückten Wünschen und gefangen in Zwängen und Verlusten, er schafft Schicksale. Auch in diesem Buch wieder.

Der dritte Roman über die letzten Kriegstage in Deutschland und die unmittelbare Zeit danach (Im Frühling sterben, 2015, Der Gott jenes Sommers, 2018). Rothmann folgt offenbar der Logik des Blues, oder des Rock. Da ist es auch die immer neue und scheinbar unerschöpfliche Variation des immer gleichen. Die Figuren wieder mit ähnlichen Erlebnissen an den gleichen Orten wie in den beiden Vorgängern. Nur mit etwas anderen Schicksalen oder Entscheidungen, die aber doch wieder in ähnliche Leben münden.

Die Versehrungen des Kriegs zwingen alle Rothmann Menschen in Variationen des Gleichen. Wieder ein Melker, der erst weiß, was er will und scheitert, wieder erst Norddeutschland im und nach dem Krieg, wieder irgendwann das raue Ruhrgebiet, das wieder knapp an der Grenze zum Klischee erzählt wird (Zechen, graue Wäsche, Bierchen, schweigsame Männer und herbe Frauen), wieder eine gewalttätige Mutter, wieder viele beschädigte Seelen, bittere, hart gewordene Menschen, die sich trotzdem kleine Freuden und Ausbrüche gönnen. Schwierige, liebenswerte, eigenwillige Menschen sind das, bei denen zumindest den Frauen eines gelingt: Nach ihren eigenen Regeln zu leben – auch auf Kosten anderer, wenn es sein muss.

Wie in „Im Frühling sterben“ ist auch in „Die Nacht unterm Schnee“ ein junges Mädchen die Hauptfigur. In dem neuen Roman ist sie aber vor allem auch Erzählerin des Lebens einer anderen Frau – von Elisabeth, deren Vergewaltigungsmärtyrium in Einschüben dem Roman seinen Titel gibt. Nach dem Krieg arbeitet sie in Kiel als begabte Kellnerin und Teilzeit-Prostituierte in einer Gaststätte, die der Mutter der Erzählerin gehört. Liiert ist Elisabeth mit dem Melker Walter, der sie irgendwann aufs Gut holt. Sie, die die Stadt liebt, tolle Kleider, Schmuck, Tanzabende und sich an all diesen anderen Männern abarbeitet, sie steht jetzt 7 Tage die Woche mit den Hühnern auf, kriegt Kinder und ist auf dem Land totunglücklich (im wahrsten Sinne). Die beiden ziehen wegen Querelen irgendwann nach Oberhausen, wo Walter im Bergwerk, tief unten in Dunkel und Lärm Arbeit findet, aber sehr schnell altert. Jetzt ist er todunglücklich, während Lise aufblüht. Die beiden sind wie Lummerland und Kummerland.

Im Mittelteil fand ich zu langatmig den Alltag auf dem Melkhof beschrieben, dann der unvermeidlichen One Night Stand zwischen Erzählerin und Walter. Da hab ich auch mal Absätze und Seiten übersprungen. Im letztzen Drittel werden die Begegnungen zwischen den drei Hauptfiguren seltener dafür dichter. Italien und andere Orte tauchen auf, bevor es in das bewegende, atemlose und packend beschriebene Finale im Ruhrgebiet geht. Man kann die Feiern, die akkuraten, kleinen Siedlungswohnungen, die süßen Weine, die Teddys in Lederjacken, die schicken Kleider und glänzenden Autos und die Zechen, Bill Ramsey und die Mimi, die ersten Einwanderer als faszinierende Fremde und Fressfeinde bei der Frauenschau, dazu die Juno Zigaretten und Nierentische und Kniffe in den Sofakissen und all dem Trallafitti, das heute im „Kohlenpott“ (wie Rothmann das Ruhrgebiet nennt) nur noch Folklore ist, nochmal lebendig lesen.

Das alles wird erzählt von einer jungen Frau: die Männerwelt der 50er bis 80er, der Sex, diese andere Frau Elisabeth, ihre Gefühle während der Gewalt unterm Schnee, ihre ganzen harten Entscheidungen. Sie eine andere Sie erzählen zu lassen, ist für einen „alten weißen Mann“ wie Rothmann eine mutige Entscheidung. Weil ja in einigen Kreisen auch Künstlern / Schauspielern die Fähigkeit bzw. Berechtigung abgesprochen wird, jemanden mit anderer Hautfarbe oder anderem Geschlecht oder auch nur aus einem anderen Kulturkreis zu spielen oder zu erzählen. Er macht es und ich jedenfalls habe keinen Man-Splaining gelesen, aber was weiß ich schon…?

Und dann schlag ich das Buch zu und plötzlich wird mir klar, dass Rothmann hier das Leben seiner Mutter und seines Vaters in einer letzten, vermutlich endgültigen Variation erzählt hat. Und dass er sogar sich selbst als „Wolfi“, Elisabeths Sohn, der als Schriftsteller in Berlin lebt, hineinerzählt hat. Abschließend. Beeindruckend. Und eigenartig, dass selbst Literatur interessierte Menschen diesen Autor auch nach bald 40 Jahren Bücherschreiben noch nicht kennen.