Louise Erdrich: Der Nachtwächter

Es geht – auf der Handlungsebene dieses tollen Romans – ums Überleben einer First Nation in den USA. Und um das, was ein Einzelner gegen ein scheinbar übermächtiges System ausrichten kann. Auf einer ganz anderen Ebene handelt der Roman von der tiefen Verbundenheit zum eigenen Land, zu dem Boden, auf dem man steht und stirbt, Generation um Generation. Die Grenzen von Zeit und Raum, Damals&Jetzt, hier&woanders lösen sich auf und ermöglichen Hellseherei, Flüche. Geistwesen sprechen und Tiere weisen die Richtung – aber auch die Toten sind da, die Gescheiterten und Verlorenen, Alkoholismus und Entfremdung.

Das Volk der Turtle Mountain Band of Chippewa in North Dakota, soll Anfang der 50er Jahre wie viele andere in Reservate gepferchte Indianerstämme für ihre wirtschaftliche Entwicklung und „größere Teilhabe“ an der Gesellschaft vom Reservat in Städte ziehen. Letztlich, um unter erneutem Bruch aller Verträge das Land verkaufen zu können. Obwohl die eigentlichen Absichten in einer Ziele verschleiernde Rhetorik von sozialer und wirtschaftlicher Fürsoge versteckt ist, erkennt Thomas Wazhashk, der titelgebende Nachtwächter, und Vorsitzender des Stammesrats, sofort, dass der Umzug in die Sädte kulturell ihre endgültige Vernichtung bedeutet.

Diese letzte Demütigung der Ureinwohner – wie um Unerbittlichkeit des Systems zu belegen – verbirgt sich in umständlichen Behördensprech („Terminierung“) und administrativen Prozessen. Die Vernichtung wird vorangetrieben von einem Mormonen-Kongressmitglied, der daran glaubt, die ganzen USA seien von Gott den Weißen versprochen. Klingt unglaubwürdig? Aber all das sind historische Fakten, die Erdrich lediglich in Romanform erzählt. Es ist die Geschichte ihres Großvaters, dem Thomas Wazhashk nachempfunden ist.


Und so schreibt Thomas Nacht um Nacht Briefe an Behörden und Unterstützter, organisiert den Stammesrat, sammelt Geld durch einem Boxkampf, um eine Delegation nach Washington zu schicken. Nachts begegnen ihm Geister und Tiere mit verstörenden Botschaften. Ein weiterer Strang des Buchs erzählt von Thomas Nichte, Patrice, Pixie genannt, und um Pixies Boxerfreund, und um Pixies verschwundene Schwester und deren Kind. Es ist der größtmögliche Kontrast zwischen den Kulturen, es geht um Ausbeutung in Prostitution, Drogensumpf, die kaputte Kultur der Weißen in der Stadt und die auf andere Art kaputte Kultur der Natives. Das Buch verhandelt Schuld und Sühne, Bildung als Weg, das System mit den eigenen Waffen zu schlagen. Liebe und kulturelle Grenzen, Mißverständnisse und Mythen. Am Ende kreist er auch um die große Frage: Wer macht Geschichte? Nicht immer die Sieger, wie wir hier lernen.

Marie Louise Bottineau Baldwin (1863-1952), Chippewa lawyer; she was the first Native American student and first woman of color to graduate from the Washington College of Law, in 1914

Ein beeindruckendes, tiefes, unterhaltsames, fröhliches, bizarres, vielstimmiges Buch über vor Leben und Selbstbewusstsein strotzenden Menschen, die sich wiewohl veramrt und gedemütigt, selbst nicht als Randfiguren oder verloren empfinden – im Gegenteil. Sie stehen fest auf der Erde, die ihre Heimat ist und immer war. Als man sie endgültig zu Fremden im eigenen Land werden lassen will, erringen sie zumindest dagegen einen kleinen Sieg. Am Anfang war da aber nur ein alter Nachtwächter, der eine Eule sah und begann Briefe zu schreiben.