Igort: Berichte aus Japan (Eine Reise ins Reich der Zeichen)

Reprodukt, 2016, 182 Seiten

Und nochmals Japan und Biografie. Und Bilder, die Japan von sich und wir von ihm haben. Viele Bilder. Grandiose Bilder. Falsche Bilder. Der bekannte italienische Comic und Mangazeichner Igort erzählt mit diesem Buch, wie er zu einem der ersten europäischen Comic Autoren in Japan wurde. Und er erzählt sehr viel über dieses Land und seine Geschichte voller Geschichten und Zeichen und Eigenheiten und Traditionen in Kultur und Kunst und Design.

Igort fasst Fuß als Zeichner, ist sehr allein zunächst, aber zugleich willkommen. Er begegnet den großen der Branche, Miyazaki vom Studio Ghibli (Chihiros Reise, Mein Nachbar Totoro, Das Wandelnde Schloss, etc.) und dem in diesem Jahr verstorbenen Jiro Taniguchi (Vertraute Fremde, Gipfel der Götter, Der Spazierende Mann +30 weitere).

Er steigt ein in die Knechtschaft der Mangazeichner, die in Serie, Tag für Tag, Woche für Woche ihre Zeichnungen raushauen. Auch das very Japan-Style, die Disziplin, die Ordnung, die Regelmässigkeit des Tuns, notfalls ein ganzes Leben lang, um es zu etwas zu bringen. Nicht unbedingt zu Geld und Ruhm, aber zu Meisterschaft.

Und mittendrin erzählt er auch vom ästhetischen „Paradox“ Japans, vom Wabi Sabi, der Verehrung der Perfektion UND der Unvollkommenheit bei gleichzeitig erkennbarer Patina, Vergänglichkeit eines Dings – ob Keramik oder eine Zeichnung. Es geht um eine Wahrnehmung von Schönheit, die in Japan in Handwerk und Kunst Tradition haben: Perfektion anstreben, nie aufhören zu üben und mit der Unvollkommenheit und Vergänglichkeit der Mühen leben – sie auch im Werk zeigen. Was eine Kunst.

Der Gott der kleinen Dinge ist Japan. Das wird auch in den verschiedenen Bereichen in Igorts Comic klar: Ob die Kunst der Verpackung, die Gärten, in der jedes Element seine Rolle spielt, die traditionellen Häuser, die Tatami Räume, Geishas und Teezeremoniell, Kimonos, No und Kabuki Theater – ja bis zum Sex und den Abgründen geht die Suche nach Perfektion und Extrem, wie Igort in seinem Exkurs über die berühmte Mörderin Abe Sada erzählt, deren pathologische sexuelle Liebe in dem Skandalfilm von Oshima, Im Reich der Sinne, verarbeitet wurde. Wie ja überhaupt der Umgang mit Sex in einem für uns christlich geprägte Europäer Widerspruch steht zur klischeehaften Ordentlichkeit und Zurückhaltung der Japaner.

An einer Stelle, beim Blick einer Postkarte des ersten Wolkenkratzers der Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurde, schreibt Igort: „In Japan sehe ich durch den dünnen Schleier der Gegenwart immer die Vergangenheit scheinen.“ Und in diesem Gefühl scheinen auch die Japaner in ihrer oft eigentümlichen Mischung aus alten Traditionen und Fortschrittsglauben zu leben.
Ausgehend von diesem Turm, erzählt er über das Viertel und eine Geschichte, die irgendwie symptomatisch ist, für das Land: Und zwar gab es in Japan lange eine Art Kastensystem wie in Indien und auch eine Unterkaste, Unberührbare. Das waren alle, die mit Blut und Schmutz gearbeitet haben, die Leichengräber, die Müllmänner usw. Sie wohnten in bestimmten Gebieten in Tokyo, einer Art Ghetto. Heute noch lassen Unternehmen Stammbäume erstellen und wollen Leute diese Herkunft nicht einstellen.

Als Google Maps bestimmte Stadtteile von Tokyo erfasst hat, legten sie darunter eine historische Karte, die man – als Service gedacht – anklicken konnte. So wurde aber erkennbar, in welchen heutigen Quartieren die damals „Unberührbaren“ gewohnt haben. Da gab es einen Aufschrei in Japan und es war eine Zeit lang nicht zu finden. Aber wie es so ist im Netz, nichts ist für immer weg, was mal da war. Und das gilt offensichtlich auch für Japan.

Es geht in Exkursen um Sumo und Samurai, die Chrysantheme, um Krieger und Kriegskult. Und natürlich die Geschichte der Manga, begonnen eigentlich im 19. Jahrhundert mit den berühmten Holzdrucken von Kuniyoshi, Hokusai und anderen, deren Bildaufbau, Stil und Fertigkeit erst die Impressionisten beeinflusste, in Japan die Kunst des Tätowierens zur Perfektion brachte und schließlich in den Bildwelten der Manga von heute mündete.

BERICHTE AUS JAPAN ist ein Kaleidoskop aus Erinnerungen, kulturellen Rückblenden, Erzählungen und erhellenden Einblicken – alle selbst in Bildern und Geschichten erzählt. Hier hat einer sein Herz ausgeschüttet und eine zweite Heimat, visuell und emotional, gefunden. Ein sehr schönes Buch.