Rachel Kushner: Flammenwerfer

Rowohlt, 556 Seiten

Wie kann ich ein Buch grandios zu Beginn finden und dann irgendwann nur noch lang, ja mindestens 200-300 Seiten zu lang? Und das, wo es von sehr unterschiedlichen Rezensenten und Autorenkollegen wie Jonathan Franzen oder Colum McCann gefeiert wurde, 2013 Finalist für den National Book Award in den USA war und von der NY Times zu einem der besten 10 Romane des Jahres erklärt wurde?

Der Einstieg, ja die ersten 200 Seiten dieses, ja, was?, Künstlerromans, dieses Doppel-Zeit-Portrait, dieser Collage aus zeitlich und örtlich verstreuten Ereignissen mit einer Hauptfigur, die aber nicht immer da ist, der ist ganz toll: Eine junge Frau, Reno, jagt auf einem italienischen Motorrad durch den Westen der USA, auf dem Weg nach Bonneville zum Salzseerennen. Dann ein Rückblick nach Alexandria zu Beginn des 20 Jahrhunderts – ohne dass man eine Idee hat, wo der Zusammenhang ist. Es aber wissen will. Sehr fließend, sehr dicht und klar geschrieben, treibend, wie der Motor der besagten Maschine. Weitere Zeitsprünge vor und zurück, ihre Ankunft in New York, die ersten Kontakte mit der Künstlerszene, ein paar Parties, und wieder nach vorn: das Salzsee Rennen und ein Unfall. Und dann…

….sind wir im ersten Weltkrieg, wo der Erfinder des Valera Motorrads (Vorbild war Ducati) kämpfte und später, nach dem Krieg in Mailand und Rom mit ein paar Futuristen die Zukunft baute, die sich erst im Faschismus und später im Großkapital erfüllen sollte. Und gegen die die Jugend der Welt in den späten

View of the World Trade Center under construction from Duane Street, Manhattan, 1970. Foto: Camilo José Vergara

60ern und 70er zu kämpfen begann. Dann Renos Rückkehr in das kaputte, späte 70er New York, wo an langen Tafeln Künstler schwafeln und sich ihre Mädels picken, alte Zeiten beschwören und mit viel Egomanie gefeiert wird – ob als Performance oder wahres Leben. Zu diesem Zeitpunkt ist man auf Seite 200 angekommen und findet es klug, packend gebaut, irgendwie eigenwilliger Stil mit wenig direkter Rede und vielen seitenlangen Beschreibungen von Kunstwerken oder Künstlerideen, dazu ein paar wunderbare Szenen aus Einsamkeit und Sehnsucht und Hellsicht und blinder Liebe und irrender, suchender, affektierter Jugend.

Was Mädchen möchten…
Ein Roman-Mix aus allem, was begehrenswert für ein junges, hübsches Mädchen scheint – oder eine junge Autorin: coole Künstler, New York in den 70ern CBGB, Lederjacken, alle Rauchen, Graffiti, Müll und Verbrechen, rough&tough – eine vollkommen andere Stadt als heute. Dazu ältere Männer, die mal berühmt waren, und jetzt nur noch reden und einem die Welt erklären wollen, und so die eigene Jugend nur noch mehr betonen, die neuen Zeiten noch verstärken, in denen sie alt ausehen, die einen begehren und nie bekommen werden.

Und dann fährt Reno auch noch nach Italien – hach ja, Italien, seit Jahrzehnten Sehnsuchtsort vieler junger College-Amerikanerinnen. Für Reno bedeutet das (fast schon Klischeeübererfüllung) eine Villa am Comer See und un po di Dolce Vita, dann Stress mit dem Boyfriend, einem Dropout aus dem Valera Industrieclan, jetzt Künstler der Minimal Art Bleikisten in New York macht. Reno geht darauf nach Rom mit einem anderen echten Mann, kurz Großdemo und Mollis und Rote Brigaden – immer ein Beschützer, Edelmann und Arschloch an der Seite, in den sie verknallt ist.

Und irgendwo hier hat Rachel Kushner mich verloren: Bei der vierten, fünften langatmigen Wiedergabe einer Politdebatte in indirekter Rede, beim nächsten Diskurs über Kunststile und Authentizität, beim nächsten 20 Seiten Exkurs über eine Underground Kunstpolittruppe oder einen Kurzfilm oder einen schrägen Typen auf der Straße – bevor dann wieder der nächste Fragenkatalog der Hauptfigur an sich selbst folgt, die versucht sich einen Reim auf die Männer zu machen. Da hab ich auch mal 10 Seiten übersprungen.

Aufgedunsen
Das Buch wirkt nach dem wirklich tollen und toll gebautem Anfang am Ende regelerecht aufgequollen, als habe die Autorin all ihre verstreuten Notizen über New York und Kunst und Filme, Freunde und die Kunstszene, dazu Charakterentwürfe und interessante Internetrecherchen zu den 70ern irgendwie in den Roman einbauen wollen, als habe sie Erinnerungsprotokolle von New Yorker Künstlerparties, auf denen sie war, Ausstellungen, die sie besuchte und die Gespräche dort, mehr oder minder 1zu1 wiedergeben. Was ok ist, aber in der Menge nervtötend und leider nicht den Bret Easton Ellis Sog entwickelt.

Aber irgendwie muss der Roman ja enden, tut er auch. Irgendwie nämlich. Aber ob sie nun mit Sandro, Ronnie oder einem anderen, der ihr helfen soll, sie selbst zu sein, ins Bett und hinüber in die 80er Jahre geht, interessierte mich nicht mehr wirklich. Die Hymnen aus den USA bleiben verstörend. Ist bei der  Übersetzung etwas verloren gegangen? Bin ich der perfekten Marketingmaschine aufgesessen? Oder haben, wie eine Studie zeigt, einfach viele das Buch  nicht zu Ende gelesen, ein häufiger Vorgang bei langen Bestsellern? Wer weiß.

Im Nachwort erklärt die Autorin mein Leseempfinden ein bisschen: Sie wollte NY 1977 in all seiner Energie mitten im Chaos zeigen und den Roman rund um die immer wieder auftauchenden Bilder nackter Frauen mit einer Waffe bauen. Frauen, die immer irgendwie im Blick der Männer existieren. Aber auch bedrohlich sind. Okay. Sie nennt dann auch all die Filme, Künstler und Bücher, deren Motive sie im Roman verwenden wollte. Und dann noch das Interesse an Italien und dem Thema Rote Brigaden (1000 junge Frauen mit Knarre in der Hose). Und Fotos von dies und dem. Und genau dieses Zuviel überlädt das Buch am Ende. Aber die ersten 200 Seiten kann man (ohne Verlust, wenn man nicht weiterliest, weil da eigentlich alles klar ist) wärmstens empfehlen.