Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis

Frankfurter Verlagsanstalt, 224 Seiten

Es fängt an, wie viele Bücher, die von Autoren oder Verlegern oder Buchhändlern handeln:  Ein Mann allein, in einem Zimmer meist, spät abends, in den Bergen, und der denkt nach. Über sein neues Leben, in diesem Fall nach der Aufgabe seines Verlags und seiner Buchhandlung, dem Verkauf des Autos und des Rückzugs ins Exil. Es ist Winter vor der Tür. Und dann steht diese Frau in Sommerkleid und offenen Schuhen vor seiner Tür – und als sie endlich über die Schwelle tritt und man trinkt, flirtet, redet und den gemeinsamen Aufbruch planen, um irgendwo den Sonnenaufgang zu sehen, beginnt auch die imaginierte Geschichte zu Handlung zu werden.


Reither, heißt der Mann. Er reflektiert als ehemaliger Lektor immer sofort, was er erzählt oder erzählt wird, oder was er aufgeschrieben hat und wir gerade lesen. Ein schöner Kniff Literatur und Leben untrennbar zu machen. Er streicht im Kopf Stellen, die das Leben zwar so schreibt, die aber keine Literatur sind seiner Meinung nach. Er würde auch gern Dinge streichen, die er Leonie sagt oder ihre Worte einfach so nehmen, wie sie sind. Reither lernt aber, immer mehr stehen zu lassen, das wahre Leben zu sehen und nicht die fiktionalisierte, sprachlich runde Fassung, die nicht Leben, sondern Buch ist. Und auch das Ziel der beiden Mittsechziger in ihrem Cabrio auf der Suche nach dem nächsten Tag verschiebt sich immer weiter: Erst Innsbruck, dann der Brenner, dann die Adria, am Ende Sizilien. Wo sie einander lieben und im anderen einen Gefährten, eine Gefährtin gefunden haben, obwohl er nicht suchte und sie nichts vermisste. Und auf den paar-1000 km und den vielen, sehr vielen Zigaretten, die in diesem Buch geraucht werden, erzählen sich dieser Mann und diese Frau auch Geschichten des privates Scheiterns und erzählen vom Erzählen, dem Schreiben und Lesen und wie die Welt, die die meiste Zeit bloß am Autofenster vorbei rauscht, da immer hineinspielt und das Erzählen die Kontingenz des Seins bändigt und erst erlebbar und verstehbar macht.

Und nach ersten Aufblitzen von Flüchtlingen an einer Raststätte, dann Gesprächen mit anderen Flüchtlingen, dann der Begegnung mit einem jungen Mädchen auf Sizilien, die Reither und Leonie ausstaffieren, unter ihre Fittiche nehmen (immer verquickt mit dem Kind, das er nie hatte und sie verloren hat) ohne das Thema Flüchtlinge und „Flüchtlingspolitik“ auch nur anzudeuten. Hier helfen Menschen einem Kind. Aber – dieses Kind wird im weiteren Verlauf zugleich Rettungsanker wie Eisberg für die Liebe der beiden.  Weil sie es doch nicht so hinkriegen und im Helfen doch ein wenig zu viel etwas für sich selbst suchen oder doch ein wenig zu sehr davon ausgehen, dass man steuern kann, was geschieht. Man verliert sich auf der Überfahrt (welch symbolischer Ort!) und Reither gerät  an neue Flüchtlinge, die helfen und denen er hilft, während Leonie und das Mädchen verschwinden, ihren Geheimnissen, nur angedeutet auf den letzten Seiten, entgegen.

Im Buch keine Dialoge mit Anführungsstrichen. Alles Direkte wird in den Textfluss eingebaut mit „er sagte, sie sagte“ bevor übergangslos wieder Reflexionen, Gedanken und Beobachtungen von Reither folgen. Die Sprache wirkt manchmal wie das beruhigende Dröhnen im Innenraum des Autos, wie die Gedanken rauschen und die beiden durch die Nacht, immer weiter. Sie berühren sich bewusst und sprechen manchmal ganz klare Sachen – dann wieder Abwarten, weiter fahren. „Frauen schreiben über ihre Wunden, Männer über ihre Narben“, heißt es an einer Stelle. Egal ob es stimmt, für diese Geschichte ist das der Grund, warum es am Ende doch eine tragische Liebesgeschichte mit fast melodramatischem Ausgang wird. Aber eben nur fast.

Kurzes, kompaktes, trotz der reflektierten Grundhaltung fast  spannendes Buch. Die Offensichtlichkeit der Konstruktion, die – ganz postmodern – offen miterzählt wird, wie ein Verfremdungseffekt, funktioniert. So soll niemand denken, es sei so gewesen oder könnte so sein. Obwohl es so war. Wie das Leben.