Ein bisschen Epochenkritik, ein bisschen Ensemblebuch ohne Hauptfigur, ein bisschen postmoderner Wahrheitsrelativismus gemixt mit klassischer Doppelgängerfantasie und SciFi, Matrix- und Brief-Roman. Und Schriftstellerroman und Dokudrama. Wäre vermutlich einfacher zu sagen, was das Buch nicht ist: Krimi z.B., wobei…, ist es auch. Oder Familiengeschichte? Wobei…, ist es auch. Oder tragische Liebesgeschichte? Ist es auch. Vielleicht ist genau das am Ende das Problem dieses dennoch recht schmalen Buchs. Dass es all das ist und auch sein will.
Der Doppelgänger ist ein eigenes Genre in Film und Literatur. Er verwischt seit Jahrhunderten die Grenze zwischen dem Ich und den Anderen, unterhöhlt die Autonomie des Subjekts, ist Mythos, in dem sowohl das Leiden an der Entfremdung und der Wunsch nach dem Ausbruch zusammenfinden. „Ich bin ein anderer sein, ich komme nur nicht dazu“, sagt man im Scherz. Die Passagiere des Flugs aus Paris, sie kommen jetzt dazu.
Der Auftakt, die ersten 100 Seite toll. Jeder und jeder aus dem 11-köpfigen Figurenensemble bekommt sein eigenes Kapitel und Einblick in einen Ausschnitt seines Lebens bis zu dem Paris-New York Flug, der wie der Brennpunkt in einer Linse ist, hinter dem das Bild auf dem Kopf stehend dargestellt wird, oder der Moment, wo man durch den Spiegel auf dessen Rückseite auf sich selbst trifft, oder eben die Raum-Zeit Verschiebung, mit der alle Gewissheiten enden. Im Flug 004 sitzen der Architekt André und seine Geliebte Lucie, der Auftragskiller Blake, der nigerianische Afro-Pop-Sänger Slimboy, der französische Schriftsteller Victor Miesel, eine Filmcutterin und weitere Individuen.
Und dann landet, durch eine Art Zeitloch geflogen, die gleiche Maschine mit den gleichen Personen drei Monate nach der ersten Landung nochmals – ohne dass für die Passagiere an Bord drei Monate vergangen wären. Als die nach den üblichen Isolation und Untersuchungen und einer Art Alien-Protokoll schließlich ihren anderen „Ichs“ begegnen, könnte es interessant sein, wie es mit den Figurenkonstellationen weitergeht. Könnte.
Die daraus entstehenden Fragen nach Individuum, Gott, dem Universum, dem Sinn und der Wahrheit und Wirklichkeit – sie versanden auch nach Bekanntwerden der Anomalie dennoch alsbald. Genau wie der Schwung des Romans selbst. Der Mensch im Angesicht der Unendlichkeit und der Komplexität des Vorstellbaren wurde schon in den Douglas Adams Romanen erzählt – aber auf weit witzigere Weise. Der Roman versandet, weil er mit der einigen These für die Anomalie, wir alle seien vermutlich nur Teil einer Computer-Simulation, die Kraft geradezu aus dem Roman saugt.
Irgendwann interessierten einen die Exkurse der sehr klischeehaften Wissenschaftler und Politiker nicht mehr. Wie die Medien darauf reagieren ist auch klar und vorhersehbar, dafür braucht man nicht mal die Zukunft. Auch dass Fanatiker mit den Doppelgänger einen Grund haben, irgendwen umbringen zu wollen. Da war die Wirklichkeit zu komplex für den Romanautor, als dass er ihr originelle Aspekte abgewinnen konnte.
Am interessantesten noch die Zwangslage des Schriftstellers Miesel, dessen Buch „Anomalie“ – ganz Paul Auster mäßig – auch IN dem Roman selbst auftaucht. Er hat dieses Buch in den drei Monaten nach der ersten Landung geschrieben, sich dann umgebracht, was dem Buch nochmal besonderen Erfolg bescherte. Der Doppelgänger begegnet dann hinter dem Zeitloch seiner Suizidentscheidung, seinem Ruhm und der Verlogenheit von Literaturbetrieb und seiner Familie. Und findet die große Liebe. Nun gut.
Interessant wird es also im Angesicht des Todes. Wenn z.B. der Pilot der Maschine, dessen eines Ich zwischen der ersten und zweiten Landung an Krebs gestorben ist – sich dann selbst beim Sterben zusieht und seine Frau es nicht erträgt, das nochmal durchzumachen. Wie damit umgehen, dass man „weiß“ was mit einem passiert sein wird (Futur 2)? Das ist klasse.
Aber für mich fanden bei den anderen Figuren und am Ende im ganzen Buch, die Fragen und Ideen und Spiegelspielchen und literarischen Doppelgänger-Topoi nicht mehr zusammen. Tellier bastelt am Ende Gedichte, Liedzeilen, Emails und Briefe in die Kapitel, die die weiteren Entscheidungen der Figuren nach ihrer Verdopplung vermeintlich „authentisch“ erzählen sollen. Sprachlich ist der Roman sowieso ein Kaleidoskop der Textarten und -stile. Am unerträglichsten vermutlich der metaphernverseuchte, poststrukturalistische Selbstmitleids-Stil des Autors Miesel, dessen Roman im Roman ja eine so wichtige Rolle spielt.
Was bleibt? Wir sollen nachdenken, was wäre wenn. Und über das Universum und den ganzen Rest, wie Douglas Adams die große Frage nannte. Wenn die Antwort am Ende wieder 42 ist – ok! Aber eben auch nicht wirklich bewegend. Konzeptbuch, das den Faden verliert.