Douglas Stuart: Shuggie Bain

Allerallerwärmste Empfehlung vom Buchhändler bei Uslar und Rai in Berlin — und nicht enttäuscht worden. Eine witzige, wilde, schöne, bittere, hoffnungsvolle und tieftraurige Geschichte. Eine Art Oliver Twist wie bei Dickens oder Die Elenden von Hugo – nur ganz nah in den 80er Jahren in Schottland. Diese 80er wirken so weit weg wie das 19. Jahrhundert bei Hugo und Dickens: Arbeiterstolz, Klassenbewusstsein? Hier nicht. Kein Ken Loach Durchhaltewillen. Die Arbeit ist hart und schlecht bezahlt, das Fernsehen muss man mit Münzen füttern, um Programm zu haben, mit Rabattmarken und billigem Bier versuchen die Leute durchzukommen, die alltägliche Gewalt und der große Stumpfsinn ersticken Gemeinschaft oder gar Revolutionsideen. Und mittendrin Kinder, deren Zukunft vorprogrammiert scheint, wenn sie es denn überleben und weg aus Glasgow schaffen. Wie Shuggie.

Anfang und Ende des Romans sind jeweils ein Kapitel mit einer Momentaufnahme der Hauptfigur Shuggie als junger Erwachsener Anfang der 90er in Gasgow. Ein einsamer Typ, der in einer Art Alte-Männer Wohnheim wohnt und offenbar alle Leinen in seine Vergangenheit gekappt hat.
Die anderen 450 Seiten spielen dann in den frühen 80ern, Shuggie ist noch ein kleiner Junge mit älterer Schwester und älterem Bruder, einer Mutter und einem Vater. Man wohnt zunächst bei den Großeltern: viel Geschrei, Umarmungen, wilde Liebe und selbstbewusste Frauen, Vater Taxifahrer mit offenbar Nebenfrauen, die Mutter immer in Wartestellung und kurz vorm Ausflippen. Dann zieht Shuggies Familie in sozialen Wohnungsbau am Stadtrand, neben Industriebrachen, am Ende einer langen Straße. Und kaum stehen die Kisten im Haus, haut der Vater ab zu seiner langjährigen Geliebten.

Es folgt bei ihr alkoholgedämpfter Stumpfsinn und allmählicher Verfall. Die Nachbarn im Viertel sind Arbeiterfamilien, als es solche noch gab, solche, die Marx im Sinn gehabt haben mag. Alles ist grau, rau, arm, kaputt – aber auch sehr am Leben. Wenn nicht malocht wird, wird nämlich gefeiert und gelacht und getanzt und sehr, sehr viel getrunken. Die Besäufnisse dauern manchmal Tage. Wie ein ewiger letzter Tanz – dem dann aber immer wieder der bittere Alltag aus Arbeit, Armut und zu vielen Kindern und zu wenig Liebe folgt.
Die Männer machen Männersachen, die Frauen Frauensachen. Meist sind die Männer grau und müde und unsichtbar oder sie sind gewalttätig oder gehen fremd. Die Frauen sind laut, brutal und vulgär und irgendwo hängt an ihnen immer ein Kind, das eine Ohrfeige bekommt oder Medikamente braucht, die man nicht zahlen kann – aber sie halten auch alles irgendwie zusammen. Nur Shuggies Mum meist nicht – da hält Shuggie alles zusammen.

In vielen Passagen erinnern diese knallharten, wilden, verlorenen, lustigen, fiesen, traurigen und elenden Figuren an die aus Ralf Rothmanns Ruhrgebietsbüchern. Allen voran Shuggies Mutter, für mich die eigentliche Hauptfigur des Buchs. Sie, die immer toll herausgeputzt und partyfreudig inmitten von Schmutz und Gossensprache ihre Würde zu wahren sucht. Sie, die alleinerziehend und meist ohne Arbeit, alkoholkrank und depressiv das Auf und Ab es Lebens der Familie bestimmt – wie ein Kapitän ihr schwankendes Schiff. Immer wieder taucht ein Mann auf und verschwindet wieder oder Shuggies Vater kommt mal gucken, haut auch wieder ab. Shuggies Geschwister ziehen sich zurück, die Schwester heiratet nach Afrika, der Bruder meidet das zu Haus, nur Shuggie ist immer da, kümmert sich, versteckt das Bier und den Schnaps, räumt auf, geht zur Schule, bewahrt sich einen Mut, eine Kraft und eigenartige Freude, die schon jesushaft wirkt.

Und als wäre Shuggies Leben noch nicht scheisse genug, ist er auch noch eine komische Type, die anders als die anderen redet, anders läuft, anders aussieht und anders denkt – da kommt er nach der Frau Mama. In der Siedlung und an der Schule, wo das Gesetz des Dschungels herrscht, ist er natürlich das natürliche Ziel von Gewalt aller Art, Mißbrauchsversuchen und Hänseleien – und deshalb immer sehr allein. Aber eben auch immer guter Dinge.
Und das macht das Buch aus. Shuggies klarer Blick, seine Liebe zu Mutter und Geschwistern machen sein Leben und die Lektüre erträglich. Der Roman ist ein bisschen Billie Elliott – nur dass Shuggy nichtmal tanzen kann, geschweige denn Fussball spielen, also nichts hat, außer seine aus unerklärlichen Quellen gespeiste Hoffnung, dass es irgendwann gut wird. Mit Mum, mit seinem Bruder, mit seinem Vater und vor allem mit ihm selbst.