Tropen / Klett-Cotta, 2017, 352 Seiten
Familienromane sollen ja schon eine Weile mal wieder out sein. Aber was ist das überhaupt, ein Familienroman? VaterMutterKind? VaterSohnKonflikt? TochterAufAbwegen? Ödipale & Vaterkomplexe? Oder einfach eine Geschichte über Menschen, die Vater, Mutter und Geschwister haben? Wenn die Familie die Keimzelle für Schmerz und Erfolg ist, wenn Lebensentscheidungen auf ihre Konstruktion und ihren Lernraum beruhen, dann ist doch fast jedes Buch ein Familienroman, oder? Nur, dass in manchen Büchern eben die Binnendynamiken der Familie im Mittelpunkt stehen. So ein Buch ist das hier. Und dazu ein wilder Trip durch die 80er. Aber wie der berühmte Frosch, der im sich allmählich erhitzenden Wasser sitzt, hockt die Familie Frank in ihrem Leben. Und das wird nicht für alle gut ausgehen. Wobei… das weiß man so genau nicht zu sagen.
Solide, unterhaltsam, mit ein paar hübschen Bildern und Vergleichen, witzigen Szenen und dieser besondern „Normalität“, mit der man in Familien auf den Wahnsinn im eigenen Leben reagiert, ist das alles geschrieben. Wenn man dem Internet glauben darf, ist das auch kein Roman, sondern gehört zum Genre der „fiktionalen Biografie“. Eine irre Geschichte: Es sind die 80er in Westdeutschland. Vatti Frank schlägt sich mit allerlei halbguten bis miesen Geschäftsideen oder Jobs durch, vertickt z.B. Wehrmachtsautos. Dabei sein größtes Talent (das der Sohn geerbt hat offenbar): Eine Geschichte erzählen, die die Leute lieben. Und so macht er seinen Verkaufskram zu etwas besonderem. „Storytelling“ nennt man das heute, ob im Manufactum Katalog oder bei all den Biokaffeefreaks, die jede Bohne erzählt bekommen, bevor sie sie aufbrühen.
In den 80ern hieß das noch „Laberei“ und mancher kam wie heute weit damit, baute Luftschlösser oder machte aus Scheisse Gold. Wie sagt Vater Frank irgendwo: Es gibt immer genug Idioten. Die muss man nur finden.
Irgendwann wohnt Familie Frank in einem Häuschen, aber die dauernde Unsicherheit der Existenz (die nie angesprochen wird) führt zu allerlei Ticks der Familienmitglieder: Muttern lutscht am Daumen und hat einen unstillbaren Putzfimmel, die Schwester fühl sich zu ekeligen Dingen hingezogen, der jüngste zieht seine Schwimmflügel nicht mehr aus. Irgendwann wohnen sie sogar in Frankreich in einer Villa mit Pool, schmeißen mit Geld um sich. Alles ist möglich, wenn man nur will. Oder erzählen kann. Doch da ahnt man schon, das wird nicht gut ausgehen. Kann doch nicht gut ausgehen. Oder doch?
Erzähler ist der älteste Sohn, der am Ende des Buchs, nach zwei bewegten Jahren, 13 ist. Der hat keinen Tick, aber bei einem Unfall Finger verloren, also für Altersgenossen schon Freak genug. Der Vater macht immer weiter, alle anderen wackeln hinterher. Als die miesen Geschäfte nichts mehr bringen, haut er mit einem großen Batzen Geld ab. Das führt die Familie von der Pfalz an die Côte d’Azur und von dort nach Portugal und wieder zurück, über Paris, zurück in die Pfalz, der Polizei gerade noch entkommend nach München und von dort über Erding im Bus mit dem allerletzten Geld an die Endstation dieses Familienlebens.
Ein wilder Ritt, der im Buch aber erstaunlich selbstverständlich rüberkommt. Fast logisch. Weil er aus der Innensicht erzählt wird und die für Außenstehende absurden Entscheidungen, für die Familienmitglieder selbst vielleicht unerfreulich, aber unvermeidlich erscheinen. Der Vater ist ein Betrüger, ein Verpisser, ein ganz großer Labertoni und vor Interpol auf der Flucht. Fast erwartet könnte Inspektor Clouseau auftreten, aber dafür ist es eben doch zu sehr Leben, groteske Lebensgeschichte von wirklichen Menschen.
Selbst als die Familie am Ende ohne Geld, nur die Laberkraft des Vaters noch als Einkommen, in einen Hotelzimmer in Portugal ohne Essen mit kotzenden, kranken Hunden auf engstem Raum lebt und fernsieht, wochenlang, kein Kind in die Schule geht, alle weder vor noch zurück können, selbst da erscheint das in Ordnung. Ist halt so.
Ein paar Marksteine der 80er, musikalisch oder historisch, Tschernobyl oder die Challenger Explosion, tauchen auf – ansonsten bewegen sich die fünf aber in ihrem eigenen Universum. Oder um beim Bild zu bleiben, rasen wie ein Komet auf die Erde zu. Der Aufprall kommt aber erst auf den allerletzten Seiten des Buchs.
Erstaunlich fand ich, wie wenig Emotionen diese Geschichte verstrahlt. Keine Wut, keine Enttäuschung und am Ende auch keine Anklage gegen den Vater (der auch gewalttätig ist, wenn er es für nötig hält). Liegt vielleicht daran, dass der Autor im Hauptberuf Journalist ist. (Hier liest er aus seinem Buch) Für Nostalgie ist natürlich bei dem Ende kein Platz – sollte man denken. Stimmt aber nicht. Denn als Kind sammelt man trotzdem diese Bilder und Momente, die auch inmitten eines familiären Irrsinns schön sind, besonders, die einen selbst besonders machen und die bleiben, auch wenn der Vater eines Tages für alle Zeit verschwunden bleibt. Die Simon und Garfunkel Kassette zum Beispiel. Und das macht das Buch auch irgendwie schön, zu einer fast klassischen Coming-of-Age Geschichte.
Am Ende schlägt Frank den obligatorischen Bogen in die Gegenwart, zu dem Punkt, der ihn (vermutlich) zum Schreiben gebracht hat. Gern gelesen!